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Sommer der Nacht

Titel: Sommer der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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von oben.
    »Ich seh' nur zum Fenster raus«, antwortete Dale, während er die Reihe der alten, ledergebundenen Bände studierte. Viele Titel waren in Latein. Die wenigen englischen sagten ihm nichts. Der Staub alter Bücher in der Luft brachte ihn fast zum Niesen.
    »Ich weiß nicht, ob ich etwas habe ... aha ... da ist es«, sagte Mr. Ashley-Montague oben auf der Galerie. Dale hörte, wie ein schwerer Band herausgezogen wurde.
    Dale strich mit dem Finger über die Buchrücken, sonst wäre ihm vielleicht gar nicht aufgefallen, daß ein schmales Bändchen weiter herausstand als die anderen. Er konnte die verschnörkelten Symbole auf dem Rücken nicht lesen, aber als er es herauszog, sah er einen englischen Untertitel unter denselben Symbolen auf dem Einband: Das Buch des Gesetzes. Unter dem Titel standen in Goldbuchstaben die Worte - Scire, Audre, Velle, Tacere. Dale wußte, daß Duane McBride Lateinisch hatte mühelos lesen können - und Griechisch, ein bißchen - und wünschte sich, sein Freund wäre hier.
    »Ja, das ist es«, sagte die Stimme direkt über Dale. Schritte gingen auf der Galerie Richtung Leiter.
    Dale zog das schmale Buch ganz heraus, sah mehrere weiße Lesezeichen zwischen den Seiten, steckte es in einem Augenblick reinster Tollkühnheit in den Bund seiner Jeans und ließ das T-Shirt locker darüber hängen, damit es nicht zu sehen war.
    »Junger Mann?« sagte Mr. Ashley-Montague, dessen polierte schwarze Schuhe und graue Hosen drei Schritte von Dales Kopf entfernt auf der Leiter sichtbar wurden.
    Dale rückte hastig die anderen Bücher zurecht, so daß die Lücke, die das schmale Bändchen hinterlassen hatte, nicht allzu deutlich war, ging mit drei raschen Schritten zum Fenster, drehte sich halb zu dem herabsteigenden Mann um, ließ den Rücken aber zur Wand gedreht und sah zu dem großen Fenster hinaus, als sei er von dem Ausblick vollkommen in Anspruch genommen.
    Mr. Ashley-Montague schnaufte etwas, während er über den Teppich schritt und das Geschichtsbuch von sich hielt. »Hier. Dieses Buch mit Notizen und willkürlich zusammengewürfelten Fotos ist das einzige, was Dr. Priestmann mir geschickt hat. Ich habe keine Ahnung, was du darin zu finden wünschst... es steht nichts über die Glocke oder den traurigen Zwischenfall mit dem beschuldigten Neger drin ... aber du kannst es gerne mit nach Hause nehmen und durchlesen, wenn du mir versprichst, es mit der Post zurückzuschicken ... in dem guten Zustand, wie du es mitgenommen hast.«
    »Klar«, sagte Dale, nahm das schwere Buch entgegen und spürte, wie das kleinere Bändchen tiefer in seine Hose rutschte. Jetzt mußte sein Umriß unter dem T-Shirt zu sehen sein. »Tut mir leid, daß ich Sie gestört habe.«
    Mr. Ashley-Montague nickte knapp und ging zu seinem Schreibtisch zurück, während Dale im Kreis schritt und versuchte, dem Mann seine Vorderseite zuzuwenden, ohne sich allzu verdächtig zu verhalten. »Du findest wohl allein hinaus«, sagte Mr. Ashley-Montague, der sich bereits wieder den Papieren auf seinem Schreibtisch zugewandt hatte.
    »Nun ...«, sagte Dale, der sich vorstellte, er würde sich umdrehen, um das Zimmer zu verlassen, Mr. A-M würde aufblicken und ... war es ein Kapitalverbrechen, ein kostbares Buch zu stehlen? Er vermutete, es kam auf das Buch an. »Eigentlich nicht, Sir«, sagte Dale. Auf dem Schreibtisch des Mannes stand in einer Ecke eine Glocke, und Dale war sicher, er würde läuten, der knochige Butler würde hereinkommen, um ihn hinauszubringen, und dann würden beide Männer den plötzlich rechteckigen Hosenboden seiner Jeans sehen. Vielleicht konnte er die Hose unauffällig hochziehen, wenn der Butler eintrat, das Hemd lockerer ziehen ...
    »Komm hier entlang«, sagte Mr. Ashley-Montague betont resigniert. Er ging raschen Schritts voran aus dem Arbeitszimmer. Dale mußte sich beeilen, mit ihm Schritt zu halten, er betrachtete im Vorübergehen die riesigen Zimmer, hielt das Buch von Priestmann an die Brust gedrückt und spürte, wie ihm das andere Buch immer tiefer in den Hosenboden rutschte. Der obere Rand mußte inzwischen deutlich am Saum des T-Shirts zu sehen sein.
    Sie waren beinahe im Foyer, als der Ton eines Fernsehers in einem kleinen Zimmer am Hauptflur die Aufmerksamkeit von Mr. Ashley-Montague und von Dale gleichermaßen fesselte. Auf dem Bildschirm johlte eine Menge, jemand hielt eine Ansprache, und die Worte drangen bis auf den breiten Flur heraus. Mr. Ashley-Montague blieb einen Moment lang stehen,

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