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Sommer der Nacht

Titel: Sommer der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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ermordet, sondern ihr auch ... äh ... Gewalt angetan. Wenig später wurden einigen der bekannteren Leute in der Stadt - darunter auch meinem Großvater, der die Ehre hatte, Richter im Ruhestand zu sein, weißt du - unwiderlegbare Beweise präsentiert, daß ein umherstreunender Neger das Verbrechen begangen hatte ...«
    »Was für Beweise?« unterbrach ihn Dale.
    Mr. Ashley-Montague hielt inne und runzelte die Stirn. »Unwiderlegbare. Ein schwieriges Wort, nicht? Es bedeutet ...«
    »Ich weiß, was >unwiderlegbar< bedeutet«, sagte Dale und biß sich gerade noch rechtzeitig auf die Lippe, bevor er das >Pißkopf< hinzufügen konnte. Er fing schon an, wie Harlen zu denken und zu sprechen. »Es bedeutet, man kann sie nicht entkräften. Ich meine aber, was für Beweise?«
    Der Millionär hob einen gekrümmten Brieföffner und klopfte damit gereizt auf den Eichenschreibtisch. Dale fragte sich, ob der Mann seinen Butler rufen und ihn hinauswerfen lassen würde. Er machte es nicht. »Ist das wichtig, was für Beweise?« sagte er, ging wieder auf und ab und klopfte nach jeder Drehung mit dem kleinen Messer auf den Schreibtisch. »Ich glaube mich zu erinnern, daß es sich um ein Kleidungsstück des Kindes gehandelt hat. Möglicherweise auch um die Mordwaffe. Was auch immer, es war unwider ... es war über jeden Zweifel erhaben.«
    »Und dann haben sie ihn aufgehängt?« fragte Dale und dachte an C. J. Congden, der draußen zappelig wurde.
    Mr. Ashley-Montague sah Dale böse an, aber die Wirkung wurde irgendwie durch die dicke Brille des Millionärs ruiniert. »Ich habe dir schon gesagt, niemand wurde aufgehängt. Es kam zu einem Stegreifprozeß ... der fand vielleicht in der Schule statt, obwohl das mehr als ungewöhnlich gewesen wäre. Die anwesenden Stadtbewohner ... allesamt geachtete Bürger, wie ich betonen möchte ... dienten als eine Art De-facto-Anklagekammer ... Weißt du, was eine Anklagekammer ist?«
    »Klar«, sagte Dale, obwohl er sie nicht hätte definieren können. Er schloß aus dem Zusammenhang, was de facto bedeutete.
    »Nun, mein Großvater war die Stimme von Gesetz und Vernunft, junger Mann, und nicht der Anführer des fanatischen Lynchmobs, den du anscheinend porträtieren willst. Vielleicht gab es Elemente, die den Neger auf der Stelle bestrafen wollten... ich weiß es nicht, mein Vater hat es nie gesagt... aber mein Großvater bestand darauf, daß der Mann nach Oak Hill gebracht wurde, wo man ihn den Gesetzeshütern übergeben wollte ... dem Büro des Sheriffs, wenn du so willst.«
    »Und wurde das getan?« fragte Dale.
    Mr. Ashley-Montague blieb stehen. »Nein. Das war die Tragödie... und die lag meinem Großvater und Vater schwer auf dem Gewissen. Es scheint, als wäre der Neger mit einer Kutsche nach Oak Hill transportiert worden und ausgerissen... geflohen... und obwohl er Handschellen und Fußketten trug, kam er bis zu einer sumpfigen Stelle an der Oak Hill Road, wo die Farm der Whit-tackers heute ist. Die Männer, die ihn eskortierten, kamen nicht mehr rechtzeitig hin, weil der trügerische Boden auch ihr Gewicht nicht getragen hat. Er ist ertrunken... erstickt, besser gesagt, denn der Sumpf bestand überwiegend aus Schlamm.«
    »Ich dachte, das wäre im Winter passiert«, sagte Dale. »Im Januar.«
    Mr. Ashley-Montague zuckte die Achseln. »Ein milder Tag«, sagte er. »Möglicherweise ... wahrscheinlich ... ist der beschuldigte Mann durch die Oberfläche des Eises gebrochen. Tauperioden mitten im Winter sind hier nichts Ungewöhnliches.«
    Dazu hatte Dale nichts zu sagen. »Könnten wir die Geschichte des County ausleihen, die Dr. Priestmann geschrieben hat?«
    Mr. Ashley-Montague ließ deutlich erkennen, was er von so einer anmaßenden Bitte hielt, aber er verschränkte die Arme und sagte: »Wirst du mir dann gestatten, mich wieder meiner Arbeit zu widmen?«
    »Aber sicher«, sagte Dale. Er fragte sich, was Mike sagen würde, wenn er von dieser fruchtlosen Unterredung berichtete. Und jetzt wird Congden mich umbringen... und wofür?
    »Warte hier«, sagte der Millionär und stieg die Leiter zur Bibliotheksgalerie hinauf. Er las die Titel mit seiner dicken Brille und schritt langsam die Reihe entlang.
    Dale ging unter den überhängenden Balkon und betrachtete die Buchreihe auf Augenhöhe gleich beim Schreibtisch des Millionärs. Dale bewahrte seine Lieblingsbücher gerne an Stellen auf, wo er sie sofort zur Hand hatte; vielleicht dachte der Millionär ebenso.
    »Wo bist du?« rief die Stimme

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