Sommer der Nacht
es echt getan«, flüsterte Dale kopfschüttelnd und wiederholte die Bemerkung seines kleinen Bruders. »Sie haben wirklich versucht, uns umzubringen.«
Mike nickte, obwohl er nicht sicher war, ob der andere Junge ihn selbst aus zwei Schritt Entfernung sehen konnte. »Ja. Jetzt wissen wir, daß sie mit uns vorhaben, was sie mit Duane gemacht haben.«
»Weil sie sich denken, daß wir Bescheid wissen?«
»Vielleicht nicht«, flüsterte Mike zurück. »Vielleicht haben sie nur vor, uns alle aus Prinzip zu beseitigen. Aber jetzt wissen wir es. Und können weitermachen.«
»Aber wenn sie - andere Wesen schicken?« flüsterte Dale. Harlen oder ein anderer schnarchte ganz leise, weiße Socken waren zu sehen, wo sie unter der Decke herausragten.
Mike hielt noch die Weihwasserflasche umklammert. Die Eichhornbüchse hatte er in der rechten Hand; sie war geladen und mußte nur entsichert und gespannt werden. »Dann schnappen wir uns die auch.« Er war nicht so zuversichtlich, wie er sich anhörte.
»Großer Gott«, flüsterte Dale. Es hörte sich mehr wie ein Gebet an, nicht wie ein Fluch.
Mike nickte, kauerte sich zusammen und wartete auf die Dämmerung.
30
Gleich nach Anbruch der Dämmerung machten sie sich auf die Suche nach Leichen.
Es war eine der längsten Nächte, an die sich Dale Stewart erinnern konnte. Anfangs hatten Schrecken, Aufregung und der Adrenalinstoß ihn aufgeputscht, aber nach der ersten Wache mit Mike, als Dale sich schlafen legte und sie noch mehrere Stunden bis zum Morgen blieben, war nur noch die Angst da. Eine tiefempfundene, übelkeiterregende Angst; es war eine Angst vor der Dunkelheit verbunden mit dem erschreckenden Geräusch von jemand, der unter dem Bett atmete. Es war die Angst vor Einbalsamierungswerkzeug und der Messerklinge am Auge, die Angst vor einer kalten Hand im Nacken in einem dunklen Zimmer. Dale hatte früher schon Angst gehabt, die Angst vor dem Kohlenkeller und dem Keller allgemein, die Angst vor dem allumfassenden schwarzen Kreis der Mündung von C. J. Congdens Gewehr, das auf ihn gerichtet war, die hodenschrumpelnde Angst vor dem Leichnam im Wasser in ihrem Keller... aber dieses Entsetzen ging über normale Angst hinaus. Dale war, als könnte man sich auf nichts mehr verlassen. Der Boden konnte sich auftun und ihn verschlingen... buchstäblich ... es lauerten Wesen unter dem Erdboden, und andere Wesen der Nacht gleich vor dem schwachen Ring aus Zweigen, der ihren einzigen Schutz bildete. Die Männer mit den Äxten warteten vielleicht gleich hinter den Blättern und Zweigen, ihre Augen tot, aber strahlend, ohne Atem, der die Brust hob und senkte, aber mit erwartungsvollem Hecheln in der Kehle.
Es war eine lange Nacht.
Alle waren wach, als die erste Andeutung von Grau durch die dichten Zweige über ihnen drang. Um halb sechs - laut Kevins Uhr - hatten sie gepackt und gingen den Weg zurück, wobei Mike dreißig Schritte vorausging, die anderen mit Handzeichen weiterwinkte oder mit einer Gebärde zum Stillstand brachte.
Hundert Meter vom Lager entfernt schwärmten sie aus, gingen auseinander und vorwärts, und jeder behielt zwei andere im Blickfeld, während sie sich langsam von Baum zu Baum, Strauch zu Strauch vorarbeiteten und sich geduckt im hohen Gras hielten. Schließlich sahen sie die verwüsteten Zelte - Dale hatte halb damit gerechnet, alles unversehrt vorzufinden, die Brutalität der vergangenen Nacht nur ein gemeinsamer Alptraum -, aber selbst aus der Ferne konnten sie die zerfetzte Leinwand, die eingestürzten Zelte und die verstreuten Kleidungsstücke erkennen. Eine Axt lag schwarz und halb in der Asche des Feuers vergraben. Harlens linker Turnschuh lag daneben.
Sie rückten langsam vor und ließen Mike an der Nord-und Dale an der Südflanke das Lager fast umzingeln. Dale war sicher, daß er die Leichen als erster sehen würde... eine auf der Wiese, wo Mike den ersten Mann erschossen hatte, und eine am Rand der Kluft... aber sie fanden keine Leichen.
Ihr erster Impuls war, durch die Trümmer ihres Lagers zu wühlen, Witze zu machen und zu lachen, weil die Nervosität von ihnen gewichen war, aber Mike ließ sie wieder ausschwärmen, nach Südosten bis zum Steinbruch, nach Norden bis zum Zaun von Onkel Henrys Grundstück, nach Osten fast bis zur Straße. Sie fanden keine Leichen.
Aber sie fanden Blut. Blutspritzer auf der Wiese, ungefähr an der Stelle, wo der Mann gestürzt sein mußte, auf den Mike geschossen hatte. Blut auf Felsen und Gestrüpp der
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