Sommer der Nacht
weh. Er stellte sich vor, wie sie keuchend und über die Lenkstangen gebeugt und nach der langen Nacht müde auf dieser langen Strecke gefahren wären, wie dieser rote Alptraum plötzlich mit einem Brüllen seines V-8-Motors zum Leben erwachte, quietschte und schwankte und Kies hinter sich aufwirbelte, wenn er sein Versteck verließ, innerhalb von zwei Sekunden über die Einfahrt holperte und den Gestank von verwesenden Viehkadavern wie eine Schockwelle vor sich her schob.
An der Stelle war der Straßengraben an der Westseite der Straße tief, der Zaun zwischen ihnen und dem Wald hoch. Hätten sie rechtzeitig von den Rädern springen und zwischen den Bäumen verschwinden können?
Und wenn Van Syke ein Gewehr gehabt hätte? Oder wenn er gewollt hätte, daß sie nach Osten in den Wald flohen, Richtung Gypsy Lane?
Als er in diesem Augenblick die hohen Maisreihen auf beiden Straßenseiten sah, die Sonne, die schon höher am Himmel stand, den Wasserturm, auf den sie sich zubewegten, und die Staubwolke hinter dem Pritschenwagen sah, war Dale unumstößlich und völlig sicher, das wirklich etwas im Wald auf sie gewartet hatte.
Immer noch wartete. Onkel Henrys beiläufiges Angebot, sie in die Stadt zu fahren, hatte ihren Plan von einem völligen Alptraum zu dem kleinen Erfolg gemacht, der er war. Dale sah über die Pritsche zu Mike, sah die von Müdigkeit umwölkten grauen Augen seines Freundes und wußte, daß Mike es auch wußte. Dale wollte ihn an der Schulter berühren, wollte ihm sagen, daß es gut war, wenn er nicht alles vorhersehen konnte... aber seine Arme zitterten so sehr, daß er die Seitenwand des Lastwagens gerade jetzt nicht loslassen konnte. Mehr noch, in diesem Augenblick wußte Dale, daß es nicht gut war, daß Mikes Fehleinschätzung sie an diesem wunderschönen Julimorgen alle das Leben hätte kosten können.
Aber was wartete da hinten im Dunkel des Waldes?
Dale machte die Augen zu und dachte an Mrs. Duggan, die seit acht Monaten tot war... an Tubby Cooke, so wie Dale ihn gesehen hatte, weiß und aufgedunsen, die Haut, die sich abschälte wie weißer Gummi, der von innen verfault ist... an lange, feuchte Wesen, die unterirdische Tunnel gruben und deren Mäuler unter der dünnen Schicht von Lehm und Laub warteten ... an den Soldaten, wie Mike ihn beschrieben hatte, mit zerfließendem Gesicht, das sich zum zähnegesäumten Rüsselmaul eines Neunauges dehnte...
Sie fuhren wortlos bis in die Stadt und winkten sich müde zu, als Onkel Henry sie nacheinander absetzte.
Der Abend senkte sich an diesem Tag etwas früher hernieder als am vergangenen, fast unmerklich, aber doch ausreichend, dem aufmerksamen Beobachter zu verraten, daß die Sonnenwende überschritten war und die Tage kürzer wurden. Der Sonnenuntergang wahrte das lange, schmerzlich schöne Gleichgewicht der Stille, in dem die Sonne wie ein roter Ballon über dem westlichen Horizont zu hängen schien, wo der ganze Himmel durch den Tod des Tages in Flammen gesetzt wurde - ein Sonnenuntergang, der so einmalig und typisch für den amerikanischen Mittelwesten ist -und von den meisten Bewohnern gar nicht beachtet wird. Die Dämmerung brachte das Versprechen von Abkühlung und die gewißliche Androhung der Nacht mit sich.
Mike hatte den Tag über schlafen wollen - er war so müde, daß seine Lider sich wie Reibeisen anfühlten und ihm der Hals vor Erschöpfung weh tat -, aber es gab zuviel zu tun. >Vandalen< hatten in der Nacht das Fliegengitter von Memos Fenster gerissen; Mikes Mutter hatte den Lärm gehört, war heruntergeeilt und hatte gesehen, wie der Wind Papiere und alte Sepiafotografien von Memos Tisch fegte, und die Vorhänge heftig in den Garten hinauswehten, als wäre gerade jemand hinausgehastet.
Memo war unversehrt, aber so aufgeregt, daß ihr Blinzeln keinen Sinn ergab und sie nicht wartete, um Fragen zu beantworten. Mikes Mutter war beunruhigt - über den Vandalismus und die Tatsache, daß sich die Besessenheit ihres Sohnes anscheinend als begründet erwies. Sie hatte ihren Mann im Geschäft angerufen, und danach Barney, der mitten in der Nacht gekommen war, sich den Kopf gekratzt und gesagt hatte, daß Vandalen diesen Sommer wirklich ein Problem seien, und Mrs. O'Rourke fragte, ob Michael oder eines der Mädchen Ärger mit C. J. Congden oder Archie Kreck hatten. Mikes Mutter hatte geantwortet, den Mädchen wäre verboten, mit Punks wie Congden oder Kreck auch nur zu reden, und daß Mike nichts mit ihnen zu tun hatte; dann hatte sie
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