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Sommer der Nacht

Titel: Sommer der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Fensters, das ganze sechs Meter über der Gasse in die Wand eingelassen war, starrte Pater Cava-naugh ihn mit toten, weißen Augen an.
    Mike stöhnte, wich zurück und prallte gegen die Sofalehne.
    Pater Cavanaughs blasses Gesicht und die schwarzen Schultern schienen vor dem Fenster zu schweben. Sein Mund stand weit offen, der Unterkiefer hing schlaff herunter wie der eines Leichnams, den jemand vergessen hatte zuzumachen. Fäden braunen Geifers rannen ihm von Lippen und Kinn. Wangen und Stirn des Priesters waren mit etwas überzogen, das Mike anfangs für Narben oder Schorf hielt, aber dann sah er, daß es sich um vollkommen runde Löcher in der Haut handelte, jedes gut zwei Zentimeter im Durchmesser. Das Haar der Erscheinung schien wie ein elektrisierter Filz um den Kopf zu schweben. Schwarze Lippen waren über langen Zähnen gefletscht.
    Pater Cavanaughs Augen waren offen, aber blind und milchig weiß, die Lider flatterten wie bei einem epileptischen Anfall.
    Einen Augenblick lang war Mike sicher, daß er den Leichnam des Priesters vor sich sah, daß ihn jemand mit einem Draht um den Hals an den Baum geknüpft hatte, aber dann bewegte sich der Kiefer auf und ab, ein Geräusch war zu hören, als würden Kieselsteine in einen kleinen Eimer fallen, und dann krallten die gekrümmten Finger nach der Glasscheibe.
    Michelle hörte den Laut und wich zurück; sie legte die Arme vor die Brust, noch während sie über die Schulter sah.
    Einen flüchtigen Blick auf etwas mußte sie erhascht haben, noch während das tote Gesicht und die schwarzen Schultern verschwanden, als wären sie mit einem Hydrauliklift gesenkt worden. Mike drückte dem Mädchen die Hand auf den Mund, als sie zu schreien anfangen wollte.
    »Was ist denn?« brachte sie hervor, als der Druck seiner Hand nachließ.
    »Zieh dich an«, flüsterte Mike, der einen Pulsschlag an der Seite spürte, aber nicht sicher war, ob es sich um ihren oder seinen handelte. »Rasch!«
    Dreißig Sekunden später ertönte ein kurzes Kratzen am rückwärtigen Fenster, aber da kletterten sie schon beide die Leiter vom Heuschober hinunter; Mike ging als erster in die Dunkelheit unten und spürte, wie die Woge sexueller Erregung abebbte, während die Chemikalien der Angst die Hormone verdrängten, die ihn noch vor einem Augenblick beherrscht hatten.
    »Was ist denn?« flüsterte Michelle, als sie an der Tür stehenblieben. Sie rückte die Träger ihres Partykleides zurecht und weinte leise.
    »Jemand hat uns nachspioniert«, flüsterte Mike. Er sah sich an den Wänden der Scheune nach einer Waffe um -eine Gabel, eine Schaufel, irgend etwas -, aber die Wände waren kahl, abgesehen von einem verrotteten Lederhalfter.
    Mike beugte sich impulsiv nach vorne, küßte Michelle Staffney rasch, aber fest, und machte die Tür auf.
    Niemand sah, wie sie aus dem Schatten unter der Eiche kamen.

31 
    Dale hatte die Party langsam satt und wollte gerade gehen, als er Mike mit Michelle Staffney an der Seite um das Haus kommen sah.
    Michelles Dad war schon eine ganze Zeit durch die Menge gegangen und hatte Kinder gefragt, ob sie seine Tochter gesehen hätten. Der Doktor hatte eine neue Polaroidkamera und wollte noch ein paar Bilder machen, bevor das Feuerwerk anfing.
    Einmal war Dale durch die Küche und den Flur entlang zur Toilette gegangen - der Teil im Innern des Hauses, der den Kindern in dieser Nacht der Nächte offenstand - und an einem kleinen Zimmer voller Bücher vorbeigekommen, wo unbeachtet ein Fernseher flackerte. Der Bildschirm zeigte eine Menschenmenge unter roten, weißen und blauen Bannern. Seit seinem Besuch im Haus von Ashley-Montague am Dienstag hatte Dale den weltpolitischen Ereignissen gerade soviel Aufmerksamkeit geschenkt, daß er wußte, heute war der vorletzte Abend der Vollversammlung der Demokraten. Dale blieb lange genug im Zimmer, daß er das Wesentliche dessen mitbekam, was Huntley und Brinkley sagten: Senator Kennedy war kurz davor, als demokratischer Präsidentschaftskandidat nominiert zu werden. Während Dale zusah, rief ein verschwitzter Mann in einer Menschentraube ins Mikrofon: »Wyoming gibt dem nächsten Präsidenten der Vereinigten Staaten alle fünfzehn Stimmen!«
    Die Kamera blendete die Zahl 763 ein. Die Menge drehte durch. David Brinkley sagte: »Wyoming hat ihm den Sieg gebracht.«
    Dale war gerade wieder nach draußen gegangen, als Mike und Michelle aus den Schatten des Gartens kamen, wo Michelle eine Gruppe ihrer Freundinnen um sich scharte und ins

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