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Sommer der Nacht

Titel: Sommer der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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verschwand hinter dem nächsten Hügel im Süden. Mike stand noch einen Moment lang da, blinzelte Staub weg und spürte, wie die Grashüpfer im flachen Gras von seinen Füßen wegsprangen. Dann drehte er sich um und sah zum Friedhof. Sein Schatten verschmolz mit dem schwarzen Gitter des Schattens des Zauns. Großartig. Und wenn Van Syke da ist?
    Er glaubte nicht, daß der Hausmeister / Friedhofswächter da war. Die Luft war still und vom Mais- und Staubgeruch des warmen Juniabends geschwängert. Und der Friedhof machte einen verlassenen Eindruck. Er zog den Kopf des Riegels am Fußgängertor zurück, ging hinein, sah die Schatten, die vor ihm tanzten, sah die hohen Grabsteine, die ihre eigenen Schatten warfen, aber ganz besonders merkte er die drückende Stille nach der stundenlangen Unterhaltung.
    Er besuchte Großpapas Grab. Es lag etwa in der Mitte des sechzehn Hektar großen Friefhofs, drei Grabsteine links vom Gras- und Schotterweg, der die Grabreihen in zwei Hälften teilte. Die O'Rourkes drängten sich in diesem Abschnitt - die Verwandtschaft seiner Mutter dichter beim Zaun auf der anderen Seite-, und Großpapas Grab war das direkt beim Weg. Dort befand sich eine große Rasenfläche, die, wie Mike wußte, für seine Eltern reserviert war. Und seine Schwestern. Und ihn.
    Die Blumen waren noch da - welk und tot, aber noch da -, die er am vergangenen Montag, dem Memorial Day, gebracht hatte, ebenso die winzige amerikanische Flagge, die die American Legion angebracht hatte. Sie wechselten die Flaggen an jedem Memorial Day aus, und Mikes Empfinden, welche Jahreszeit herrschte, hing teilweise davon ab, wie verblaßt die Flagge an Großpapas Grab war: Er hatte sich im Ersten Weltkrieg freiwillig gemeldet, war aber nie nach Übersee gegangen, sondern hatte lediglich vierzehn Monate in einer Kaserne in Georgia verbracht. Als Mike noch klein gewesen war, hatte er sich Memos Geschichten von den Abenteuern von Großpapas Freunden im großen Krieg in Übersee angehört und von Memo den eindeutigen Eindruck gewonnen, zu den wenigen Dingen in seinem Leben, die der alte Mann bedauerte und die er sich anders gewünscht hätte, gehörte auch, daß er nie an die Front gekommen war.
    Die Farben der Flagge waren strahlend: Blutrot und strahlend Weiß über dem grünen Gras. Im schrägen, horizontalen Licht wirkte alles noch greller und voller. Auf der Farm von Dales Onkel Henry auf dem Hügel eine viertel Meile entfernt muhte eine Kuh, und der Ruf war deutlich in der stillen Luft zu hören.
    Mike senkte den Kopf und sprach ein Gebet. Vielleicht mußte er die kleinen Notlügen ja doch nicht beichten. Dann bekreuzigte er sich und ging den Weg entlang zum hinteren Teil des Friedhofs und Van Sykes Schuppen.
    Eigentlich war es gar nicht Van Sykes Schuppen, lediglich ein alter Werkzeugschuppen, der schon seit Ewigkeiten auf dem Friedhof stand. Er stand abgeschieden beim hinteren Zaun, hinter einem gemähten Stoppelstreifen abseits der letzten Grabreihe - aber Mike dachte, der Friedhof würde eines Tages auch dorthin wachsen -, das volle Abendlicht lag auf der Westwand wie Butter auf Stein.
    Mike bemerkte, daß das Vorhängeschloß an der Tür hing, und er ging vorbei, als wollte er zu den Wäldern und Tagebauminen weit hinter dem Friedhof - das übliche Ziel der Kinder, wenn sie hier durchkamen -, dann kehrte er um und schlich in den dunklen Schatten an der Westseite des Gebäudes. Grashüpfer sprangen aus den Stoppeln unter seinen Füßen, trockenes Gras knisterte.
    An dieser Seite war ein Fenster - das einzige Fenster des Schuppens -, klein und auf Kopfhöhe von Mike. Er ging näher, schirmte die Augen ab und blickte hinein.
    Nichts. Das Fenster war zu staubig, das Innere zu dunkel.
    Mike schlenderte pfeifend und mit den Händen in den Taschen um den Schuppen herum. Er sah mehrmals über die Schulter und vergewisserte sich, daß niemand den Weg entlang kam. Die Straße war verlassen, seit Pater C. weggefahren war. Der Friedhof war still. Jenseits der Straße war die Sonne mit der scharlachroten Zeitlupeneleganz untergegangen, die nur Sonnenuntergänge in Illinois eigen ist. Aber am wolkenlosen Himmel leuchtete immer noch das abendliche Junilicht, das allmählich zu wahrer Dämmerung und sommerlicher Dunkelheit verblaßte.
    Mike begutachtete das Vorhängeschloß. Es war ein solides Schloß Marke Yale, aber die Metallplatte, wo das Schloß am Türrahmen befestigt war, war in gesplittertes, verfaultes Holz eingelassen. Mike pfiff immer

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