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Sommer der Nacht

Titel: Sommer der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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und nicht beichtete... nun, Pater Harrison hatte ihm die Strafe geschildert, die abtrünnige Sünder in der Hölle erwartete.
    Mike seufzte, steckte das Magazin dorthin zurück, wo er es gefunden hatte, breitete die Zeitung darüber und stand auf. Er würde den Hügel hinunterlaufen und rasch den nächsten emporsteigen, das dürfte die schlimmen Gedanken in seinem Kopf und die Härte hinter dem Hosenschlitz vertreiben.
    Die Decke rutschte von der Pritsche, als Mike aufstand, und ein ekliger Geruch erfüllte den Raum.
    Mike wich zurück, aber dann kam er wieder näher und zog die Decke ganz weg.
    Der Geruch von aufgeworfener Erde ... und etwas Schlimmerem ... drang unter der Pritsche hervor. Mike hielt einen Moment den Atem an, dann hob er die Pritsche hoch und stellte sie gegen die Kisten.
    Da war ein Loch. Es hatte einen Durchmesser von über sechzig Zentimetern und war vollkommen rund, wie ein offener Kanaldeckel auf einer städtischen Straße. Aber die Ränder bestanden aus gestampfter Erde. Mike ließ sich auf allen vieren nieder und sah hinein.
    Der Gestank war sehr schlimm. Mike war einmal im Schlachthof von Oak Hill gewesen, und der Geruch erinnerte ihn an den Raum, wo sie die Eingeweide und andere Abfälle hineinwarfen, die sie nicht verkaufen konnten. Der Blutgeruch war derselbe. Er mischte sich mit dem kräftigen Geruch der frischen Erde, alles zusammen war so stark, daß Mike fast schwindlig wurde. Er schwankte einen Moment mit geschlossenen Augen.
    Als er sie wieder aufmachte, sah er eine verstohlene Bewegung tief unten in dem Loch, als wäre gerade etwas vom Licht fortgewuselt. Mike blinzelte. Die Ränder des Lochs waren seltsam - rötlich, obwohl der Boden hier kein Lehm war, und gleichmäßig gestreift. Es erinnerte Mike an etwas, obwohl es ihm momentan gerade nicht einfiel. Dann kam die Erleuchtung.
    Dale Stewart besaß eine Ausgabe von Compton's Illustrierter Enzyklopädie. Die Jungs sahen sich gern den Eintrag über den menschlichen Körper an; der enthielt Transparentbilder zum Über-einanderlegen. Einer dieser Bogen zeigte nur das Verdauungssystem mit Querverweisen und farbigen Ausschnitten.
    Die Wände dieses Lochs sahen wie menschliche Eingeweide aus; rot und roh.
    Dann schienen sich die roten Ränder vor Mikes Augen ein wenig zu bewegen - sie zogen sich zusammen und entspannten sich wieder. Der Geruch aus dem Loch wurde schlimmer.
    Mike kroch auf allen vieren rückwärts und atmete flach. Irgendwo ertönte ein raschelndes, schabendes Geräusch. Ratten draußen ... oder irgendwo da unten?
    Plötzlich stellte Mike sich vor, daß dieser Tunnel zum Friedhof verlief und die Gräber dort miteinander verband. Er stellte sich vor, wie Van Sykes Kopf voraus in das Loch kroch und die rohe Öffnung hinunter in die tieferen Eingeweide der Erde verschwand -wie Van Syke sich wie eine Schlange gewunden hatte und sich versteckte, als er Mikes Pfeifen vor einer Minute gehört hatte.
    Van Syke ... oder etwas Schlimmeres?
    Mike zitterte. Das staubige Fenster verriet, daß es draußen bereits dunkel war, obwohl in der Türspalte noch fahles Licht glomm.
    Mike stellte die Pritsche wieder zurück, legte Magazin und Zeitung wieder so hin, wie er sie vorgefunden hatte, und zog die Decke so zurecht, daß sie das Loch wieder bedeckte. Ihm wurde klar, daß es der Decke gar nicht bedurfte, es zu verbergen. Es ist so dunkel hier drinnen, daß man das Loch unter Umständen gar nicht bemerken würde, wenn der Geruch nicht wäre.
    Mike war noch auf den Knien, als er sich eine madenweiße Hand vorstellte und einen Arm, die aus der Schwärze unter der Pritsche hervorschnellten - hervorschnellten und sein Handgelenk und den Knöchel packten.
    Mikes sexuelle Erregung war völlig dahin. Einen Augenblick lang war ihm, als müßte er sich übergeben. Er machte die Augen zu und den Mund auf, damit er den Geruch nicht mehr so sehr wahrnahm, und konzentrierte sich darauf, ein Ave Maria und ein Vaterunser zu sprechen.
    Es half nichts.
    Er stellte sich vor, daß er schleichende Schritte auf den Grasstoppeln draußen hörte.
    Mike riß die Tür auf, stürzte hinaus und scherte sich nicht darum, ob er jemandem in die Arme lief, er wollte nur weg von dem Loch ... weg von hier.
    Der Friedhof war verlassen. Der Himmel war dunkler, ein einsamer Stern leuchtete im Osten über den Baum-wipfeln, der Wald sah finster aus, aber noch herrschte die Sommerdämmerung. Zwanzig Meter entfernt saß eine Amsel mit roten Flügeln auf einem Grabstein und

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