Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)
Mutter an diesem Abend gebacken hat. Ich erinnere mich an alles.
Das Dorf
Mitten in der Nacht klingelt das Telefon. Alle in der kleinen Wohnung werden wach. Aber nur Anna steht auf. Sie weiß, dass es für sie ist. Halb drei. Sie nimmt den Hörer ab.
»Hallo?«
»Ich werfe dich in eine Wanne mit Säure. So wirst du irgendwann enden. In den nächsten Tagen stirbst du.«
Anna zieht den Stecker des Telefons heraus. Sie geht ins Bad. Wäscht sich die Hände. Dann legt sie sich wieder ins Bett.
»Wer war das, Anna?«, fragt ihre Schwester schlaftrunken.
»Niemand. Mach dir keine Sorgen, schlaf weiter.«
»Was haben sie gesagt?«
»Jetzt wird geschlafen.«
»Hast du das Telefon ausgestöpselt?«
»Ja.«
»Gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Vier Augen starren weit aufgerissen in die Dunkelheit und warten darauf, dass es Tag wird.
Die Stufe
D as Fest an meinem dreizehnten Geburtstag war wunderschön. Alle meine Onkel und Tanten sind gekommen. Auch meine Lieblingstante Tiziana. Und meine Cousinen. Mama hat eine wunderbare Torte gebacken, wirklich dreistöckig, wie versprochen, und ich habe ein Stofftier bekommen und ein neues Kleid für den Tag der Abschlussprüfungen.
Am nächsten Tag treffe ich mich wie verabredet mit Domenico.
Wir üben mit dem Kirchenchor das Ave Maria ein. Das werden wir an Ostern singen. Ich habe sogar ein Solo. Und dank dem Chor kann ich mich etwas freier bewegen und auch nachmittags das Haus verlassen.
Nach der Probe gehe ich hinter die Kirche. Domenico wartet dort schon auf mich. Er ist allein. Wir setzen uns ganz nah beieinander auf eine Stufe. Er nimmt sofort meine Hände. Und ich lasse es zu. Mir gefällt das.
»Ich möchte mich mit dir treffen. Mir ist es ernst. Ich werde mit deinem Vater reden. Du bist ein Püppchen. Und du sollst mein Püppchen sein.«
Er sagt viele solche zärtlichen Sachen zu mir. Ist so nett. Ich werde ganz rot und bringe kaum ein Wort heraus. Ich hatte noch nie einen festen Freund. Einen Verlobten.
Domenico arbeitet bei seinem Vater in der Ziegelei von Rendo. Er fährt einen grünen Lancia Y10. Und er ist ein anständiger Kerl. Er verdient sich seinen Lebensunterhalt auf ehrliche Weise.
Nach jenem Nachmittag treffen wir uns noch einige Male. Wir verabreden uns nie vorher. Ich sehe ihn, wenn ich aus der Schule komme. Oder vor der Chorprobe. Wir treffen uns einfach im Ort, und dann gehen wir zu unserer Stufe hinter der Kirche. Es ist nur eine Stufe vor einer verschlossenen Tür, auf der Rückseite der Pfarrkirche. Doch für mich ist sie so schön wie eine Bank am Meer.
Auf der Eisentür stehen viele Namen von verliebten Pärchen, mit dickem Edding draufgekritzelt. Und wir lehnen uns mit dem Rücken an die Tür und ihre Versprechen und reden über Gott und die Welt. Aber niemals sehr lange.
Wir bleiben nur kurz zusammen, weil ich dann immer nach Hause muss. Ich darf nicht lange allein unterwegs sein. Aber für ihn ist das so in Ordnung. Und er macht mir viele Komplimente.
Zu Hause und bei meinen Mitschülerinnen erzähle ich nichts von meinen Treffen mit Domenico. Kaum eine meiner Freundinnen hat schon einen festen Freund, einen Verlobten.
Jedes Mal, wenn ich von einem Treffen mit Domenico nach Hause komme, schalte ich das Radio ein. Dann suche ich nach Liebesliedern und singe mit. Meine Mutter sagt, ich spinne. Aber ich singe trotzdem. Und träume von meinem Brautkleid.
Es muss aus Seide sein, und lang natürlich. Außerdem soll es am Rücken drei Röschen haben, eine Brosche, um die Schleppe zu halten, die lang, weich fallend und weiß sein muss. Kein Schleier, weil ich so klein bin. Aber dafür ein Krönchen aus Seidenrosen auf den Haaren, die ich offen tragen werde.
Ich singe und träume vor mich hin und denke an all die Worte, die Domenico zu mir sagt. Es ist wunderbar, dreizehn Jahre alt zu sein.
Das Dorf
»Du bist eine Nutte, eine verdorbene Schlampe. Du gefällst mir so, warum gehst du nicht mal mit mir? Du bist doch so gut im Blasen. Du Nutte, mir ist ganz egal, dass du zu den Carabinieri gerannt bist. Wenn du nicht am üblichen Platz auftauchst, komme ich zu dir nach Hause.«
Der erste Anruf ist heute um 15.55 Uhr. Ein weiterer um 15.57. Und um 16.06. Um 16.11. Um 16.14. Und um 16.16.
Es sind immer die.
Anna zieht den Telefonstecker heraus, sie schließt das Fenster, verriegelt die Tür.
Doch die Stimmen schweigen nicht. Die anklagenden Worte schlüpfen durch die Mauerritzen hinein, unter der Tür durch. Dringen von oben durch das Dach
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