Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)
nicht die Kraft, über die Schwelle des Hauses zu treten, und sie möchten auch nicht zu zweit ausgehen und dann die anderen beiden zu Hause wissen.
Die Familie bildet eine Einheit. Die Familie Scarfò ist im Laden, um einzukaufen. Das Auto parkt direkt vor der Tür. Aurora hält die jüngere Tochter an der Hand. Der Vater ist schon an der Kasse. Anna kommt heraus, um den Wagen aufzuschließen. Sie bewegen sich wie Arbeiter am Fließband. In perfekter Harmonie. Absolut synchron. Jeder hat seine Aufgabe. Sie haben ihre Abläufe aufeinander abgestimmt. Aber alles lässt sich nicht vorausberechnen.
Anna steht auf dem Bürgersteig zwischen der Ladentür und dem Wagen, ihre Familie nur wenige Meter entfernt. Ein Fahrzeug bremst vor ihr ab.
»Hure, schmutziges Ding. Malanova mu ti imbatti. Hure, Schlampe.«
Aurora, ihr Mann und die Kleine eilen nach draußen. Stellen sich um Anna. Das Auto ist bereits weggefahren.
»Malanova …« Unglücksbote, Unheilbringerin … verfluchtes Geschöpf, so nennen sie Anna Maria.
Die Beschimpfungen bleiben in Annas Brust eingebrannt. Sie schmerzen.
Christus am einen Ortsende, die Madonna am anderen
W enn ich die Gesichter beschreiben soll, gelingt mir das nicht. Ich weiß nicht warum. Eigentlich habe ich ein sehr gutes Gedächtnis. Ich erinnere mich an alles, immer. Aber diese Gesichter sind wie schwarze Schatten. Ich erinnere mich an die Körperhaare. Die grobporige, schweißnasse Haut. Die schwarzen Haare. Die stumpfen Blicke. Ich erinnere mich an alles, aber nicht an die Gesichter.
Wer sind also meine gesichtslosen Gespenster?
Es sind LKW -Fahrer, Arbeiter, ganz normale junge Männer. Sie sind alle verheiratet oder verlobt. Und die Verlobten haben alle schon den Termin in der Kirche vorgemerkt und das Restaurant für die Hochzeitsfeier reserviert, für den Tag, an dem groß gefeiert wird. Meine Gespenster haben eine Arbeit, ein Leben, eine Frau.
Das sind die vier von der Hütte. Ehrenwerte Männer aus dem Dorf, die am Sonntag am Arm ihrer Verlobten in die Kirche gehen und die Osternacht mit mir verbracht haben.
Domenico Cucinotta ist 1999 zwanzig Jahre alt und arbeitet bei seinem Vater in der Ziegelei von Rendo. Domenico Cutrupi ist ein Jahr älter und Fernfahrer. Im Sommer transportiert er Tomaten und im Winter auch schon mal Eisen und Zement. Cucinotta hat einen grünen Lancia Y10, Cutrupi einen schwarzen Lancia Thema, der immer tipptopp glänzt. Und er ist sogar verheiratet. Auch Domenico Iannello hat eine Frau und ist Fernfahrer. Er ist der Älteste. Dreiundzwanzig Jahre. Michele Iannello ist der Netteste, er ist verlobt.
Wenn Sie ihnen auf der Straße begegnen würden, würden sie Ihnen nicht weiter auffallen. Familienväter. Arbeiter. Arbeitstiere.
Warum haben sie sich mich ausgesucht?
Wozu brauchen sie mich?
Wozu die Hütte?
Ich weiß es nicht. Ihnen kommt das ganz normal, ganz selbstverständlich vor. Sie würden es nicht einmal als Zeitvertreib bezeichnen. Nicht nur jedenfalls. Es ist ein Spiel unter ihnen, ein Geheimnis in einem so kleinen Dorf, wo jeder über jeden Bescheid weiß.
Sie bekommen einen Adrenalinkick, eben weil es ein Geheimnis ist, der Reiz des Verbotenen, das Schweigen unter Komplizen, das alles, was sie tun, umgibt.
* * *
Ich komme aus der Schule. In einer Woche habe ich die Abschlussprüfungen. Ich lehne an der Außenmauer der Schule und warte auf Cucinotta und Iannello.
Warum warte ich auf sie?
Die Osternacht und die Sache in der Hütte ist jetzt einen Monat her. Vor ein paar Tagen habe ich sie auf der Straße getroffen. Domenico Cucinotta. Die Iannello-Brüder. Cutrupi. Sie fahren immer gemeinsam im Auto durch die Gegend. Sie halten auf dem Platz, starren mich an und versuchen, mich anzurufen. Ich spüre ihre Augen auf mir. Das Dorf: fünfzig Straßen, hundert Häuser. Die Eisenbahnschienen. Der Platz. Die Kirche. Ein Laden. Eine Bar. Christus am einen Ortsende, die Madonna am anderen, damit werden die Grenzen abgesteckt. Meine Familie. Und die.
Wohin soll ich gehen? Wohin?
Also warte ich.
Ich sehe einen blauen Lancia Thema kommen, das ist der Wagen von Michele Iannello.
Das Dorf
»Scheißhure«, zischt jemand wie eine Schlange. Die Frau geht unter dem Fenster vorbei. Anna schließt schnell die Läden und setzt sich dann wieder aufs Bett.
Szzzzzz …
Ein gelbes Auge geht auf und zu. Die Lippen sind feucht und zusammengepresst.
Die Frau verschwindet.
Der Stall
H ier drunter kann ich nicht atmen. Ich bekomme keine Luft. Ich
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