Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)
aber diese Frage sollte ich meiner Mutter wohl lieber nicht stellen.
Schwester Mimma ist nicht mehr zu mir nach Hause gekommen. Ich bin nicht mehr in die Kirche gegangen. Und ins Internat nach Polistena bin ich auch niemals gegangen.
Ich bin keine Jungfrau mehr.
Ich habe mir von meiner Tante erklären lassen, was das bedeutet, da Schwester Mimma sich geweigert hat.
Jetzt habe ich verstanden. Das war also das Blut. Die haben mich nicht verletzt. Zumindest nicht äußerlich.
Das Dorf
Wenn Anna doch nur weinen könnte. Aber die Tränen bleiben ihr in der Kehle stecken. Sie steigen nicht hoch zu den Augen, die trocken durch das Fenster auf das Dorf blicken.
San Martino ist das einzige Zuhause, das sie kennt, und sie kann ihr Zuhause nicht verlassen.
Jeder andere an ihrer Stelle wäre geflüchtet. Jede andere Frau hätte diese Straßen nicht mehr sehen wollen, ihre Autos, die Lieferwagen, ihre Gesichter.
Jede andere Frau wäre aus dem Dorf und vor ihrer Vergangenheit geflüchtet.
Doch Anna Maria hat nicht die Kraft, von einem anderen Ort zu träumen, und gibt sich mit dem Hier zufrieden. Auch wenn es wehtut, wenn jede Straße ein Mahnmal ihrer Angst ist.
Die Stickerei
I ch halte den Stoff gegen die Sonne. Das Gewebe ist so dünn, dass das Licht hindurchscheint.
Vor drei Tagen, auf dem Rückweg von der Schule, habe ich Domenico Iannello getroffen. Er hat mich angehalten und mich nach meiner Handynummer gefragt. Ich habe ihm gesagt, dass ich kein eigenes Telefon habe.
»Ich finde dich auch so«, hat er gesagt, und dann hat er laut gelacht.
»Und wenn du mich findest, was willst du dann tun?« Am liebsten hätte ich ihm das Gesicht zerbissen.
»Annare’, jetzt hab dich nicht so, wir wollen nur ein bisschen spielen, wie beim letzten Mal dort draußen. Wir hatten doch alle unseren Spaß, nicht wahr? Du doch auch.«
Ich war nicht in der Lage, ihm zu antworten. Ich bin weggelaufen. Als Letztes habe ich ihn noch etwas rufen gehört, aber ich konnte kein Wort verstehen.
Seit drei Tagen gehe ich nicht mehr zur Schule. Aber morgen muss ich wieder hin.
Meine Eltern sagen nichts. Ich mache mich zu Hause nützlich. Heute ist eine meiner Mitschülerinnen vorbeigekommen, um mir auszurichten, dass meine Italienischlehrerin gefragt hat, was mit mir ist. In einer Woche schreiben wir die Prüfungen.
Morgen muss ich unbedingt wieder zur Schule gehen.
Der Stoff meiner Stickarbeit ist lose gewebt. So kann ich im Gegenlicht die Fäden zählen. Ich habe mir nichts vorgezeichnet. Ich möchte einen Pfirsichbaum sticken, mit rosa Blüten, und darunter ein Mädchen, das stickt. Ich arbeite ohne Vorlage. Ich habe einen guten Blick für Proportionen.
Dreiunddreißig, vierunddreißig … sechsund… Ich zähle im Kopf die Stiche, die ich benötige, um mit rosa und grünen Fäden die Baumkrone zu sticken. Zwölf, sechzehn … zwanzig. Ich zähle die Fäden, die einige Zentimeter Stoff ausmachen, um mir darüber klar zu werden, wie viele Stiche ich wohl pro Zentimeter brauche.
Sticken beruhigt mich. Wenn ich zähle, denke ich nicht. Ich beginne immer in der Mitte der Handarbeit und fange jetzt mit Grün an. Rosa und die anderen Farben kommen später dazu. Kreuzstich. Ich beginne damit, dass ich zwei nebeneinanderliegende Fäden aus dem Gewebe ziehe, und dann säume ich den Rand mit kleinen, ganz engen Stichen.
Ich zähle und ziehe dabei die Stiche fest.
Es stimmt nicht, dass ich kein Handy habe. Und es stimmt auch nicht, dass ich Iannello meine Nummer nicht gegeben habe. Ich habe sie ihm gegeben. Und er hat mich heute Morgen angerufen.
»Annarella, morgen gehst du zur Schule, und nach dem Unterricht treffen wir uns.«
Ich habe ihm meine Nummer gegeben, und als er mich angerufen hat, habe ich ja gesagt.
Ich werde ihn morgen nach der Schule treffen.
Ich sitze in meinem Bett, im Schneidersitz, den Rücken gegen die Wand gelehnt, und ziehe die Stiche fest. Immer fester. Immer enger. Immer dichter. Mit Grün bin ich fertig, jetzt nehme ich Rosa. Das Zimmer ist von Licht durchflutet. Ich hebe den Stoff hoch, um die Stiche zu überprüfen, und das Licht dringt durch das Gewebe und blendet mich. Ich weiß nicht, wie ich mich wehren soll.
Ich weiß nicht, was ich tun soll.
Morgen muss ich das Haus verlassen.
Das Dorf
Wenn sie das Haus verlassen müssen, gehen sie mittlerweile nur noch alle zusammen nach draußen. Damit der eine auf die anderen aufpassen kann. Damit jeder den, der neben ihm geht, beschützen kann. Allein haben sie
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