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Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)

Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)

Titel: Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Maria Scarfò
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nämlich ihre Gefühle zu vergessen. Zu vergessen, was geschehen ist. Und wo.
    Sie erinnert sich an jedes Wort. Die Empfindungen hat sie jedoch ausgelöscht. Das Grauen und den Schmerz beim ersten Mal. Die Angst, die Zweifel, den Ekel und auch die Angst bei all den anderen Malen. Sie ist stark geworden, weil sie innerlich leer ist. Sie hat beschlossen, wie in Agonie zu leben. Sie hat beschlossen, die Nacht zu erwarten, und sie weiß nie, ob wohl nur ein Tag endet oder ob es das Ende aller Tage ist.
    So hat sie ihre Eisfiguren immer tiefer verdrängt.
    Aber die Kälte … die konnte sie nicht vertreiben. Die ist immer noch da.
    Sie schläft nicht. Wenn sie einschläft, werden aus Geräuschen Albträume. Sie bleibt lieber wach, als wäre sie im Sand eingegraben. Aufrecht stehend, nur den Kopf draußen. Sie steckt fest. Drinnen die Kälte und draußen die Drohungen. Alle reden durcheinander. Der Lärm ist unerträglich. Zischende Stimmen.

Das Internat von Polistena
    S chwester Mimma parkt den blauen Fiat Punto vor einem hohen Tor. Sie hat abrupt und ungeschickt abgebremst, aber so fährt sie eben. Hinter dem Tor sieht man ein Haus. Als man mir etwas von einem Internat erzählte, habe ich sofort an ein englisches Herrenhaus gedacht, mit Rasen und einem moosbewachsenen Dach. Man hat mir etwas von einer Villa erzählt. Stattdessen ist es ein ganz normales vierstöckiges Gebäude mit schmiedeeisernen Balkonen und Fenstern. Es sieht nicht aus wie ein Internat, eher wie ein Wohnhaus.
    »Anna, ich habe schon mit der Leiterin gesprochen, aber ich muss ihr einige Dinge erklären. Jetzt gehen wir mal rein, und du kannst dich ein wenig umschauen, so bekommst du einen Eindruck. Hier kannst du zusammen mit Mädchen in deinem Alter wohnen und lernen, und vor allem gibt es keine Männer, du bist also in Sicherheit.«
    Schwester Mimma schließt den Punto ab. Eine Möwe kreist im Tiefflug über uns und schreit. Aber wir sind doch gar nicht am Meer. Ich muss mich geirrt haben. Vielleicht ist es gar keine Möwe.
    Wir betreten das Haus gemeinsam, aber dann trennen wir uns sofort. Schwester Mimma geht in einen Raum am Ende des Flurs im ersten Stock. Ich gehe mit einer anderen Schwester in den zweiten Stock.
    Es fühlt sich merkwürdig an, hier zu sein. Die Wände sind weiß, in die Ecken sind kleine Blümchen gemalt. Es riecht nach Ajax. Irgendjemand spielt Klavier. Na ja, es ist nicht gerade eine Melodie. Nur zwei Noten, die wiederholt werden und dann in einer anderen Tonlage. Das ist keine Melodie, es klingt eher wie Wassertropfen.
    »Wir haben ein Musikzimmer«, sagt die Schwester, die mich begleitet und bemerkt hat, dass die sich wiederholenden Noten mich fesseln.
    »Ich kann kein Instrument spielen, aber ich singe«, versuche ich gut dazustehen.
    »Sehr schön. Das ist ein guter Anfang. Keine kann ein Instrument spielen, wenn sie hier ankommt, aber das lernt man. Hier lernt man viele Dinge. Man lernt, sein Leben zu ändern und bestimmte Fehler nicht mehr zu begehen. Man findet hier seinen eigenen Weg«, sagt sie lächelnd.
    »Sind Sie eine Nonne, so wie Schwester Mimma?«
    »Aber sicher, Liebes, sicher.« Sie lächelt weiter.
    »Aber Sie tragen ja gar keine Tracht und keine Haube.«
    Die Frau, der mich Schwester Mimma anvertraut hat, trägt einen blauen Rock, eine weiße Bluse und einen grauen Pullover. Kurze gelockte Haare und eine Brille mit schmalen, ovalen Gläsern. Auf meine Bemerkung lächelt sie nur wieder. Sie begleitet mich in die Räume des Schlafbereichs. Sie geht vor mir her, ich folge ihr in einem Schritt Abstand. Zimmer mit Betten, Nachttischen und Kleiderschränken. Schlicht, ordentlich. Ein Mädchen putzt gerade. Ich kann sie kaum erkennen. Sechzehn oder siebzehn Jahre alt, mit blonden Haaren, die zu einem kleinen Pferdeschwanz zusammengefasst sind. Ich würde mich gerne mit ihr unterhalten, aber die Schwester ist schon weiter ganz am Ende des Flurs. Ich verlasse den Schlafsaal und folge wieder schweigend der Schwester im Pullover und ohne Haube.
    Wir gehen in den Speisesaal. In der Mitte steht ein großer Tisch, den zwei Mädchen um die zwanzig decken. Beide bemerken mich. Ich bleibe in der Tür stehen. Eine der beiden winkt grüßend zu mir hinüber.
    »Hallo, ich bin Anna Maria«, sage ich automatisch.
    »Isst du mit uns, Anna Maria? Soll ich noch ein Gedeck auflegen?«, fragt das Mädchen, das mir zugewinkt hat, und schaut mir direkt in die Augen.
    »Nein. Ich glaube nicht.« Ich blicke zu der Schwester ohne

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