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Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)

Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)

Titel: Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Maria Scarfò
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schutzlos fühlt, in Gefahr, am Rand des Abgrunds, dann sendet jeder von uns ein Signal aus. Und dieses Signal kann man weder hören noch sehen. Es besteht aus reiner Energie. Es ist ein Schrei nach Hilfe, der nur von einigen wenigen Menschen wahrgenommen wird.
    Wenn man glücklich ist, wenn man jemanden streichelt, ihm einen Kuss gibt, wenn man wütend, gerührt oder traurig ist, dann spricht der Körper auch. Aber wenn man Angst hat, ist das anders. Dann sendet der Körper nur ein Signal aus. Und meine Angst spürt keiner außer denen. Cucinotta und die Brüder Iannello sind ständig in meiner Nähe.
    Sie verfolgen mich auf der Straße, sie rufen mich auf dem Handy an. Sie nehmen mein Signal wahr und antworten darauf. Weil sie wissen, dass meine Angst ihre Stärke ist.
    Alle anderen merken rein gar nichts. Für alle anderen geht mein Leben seinen ganz normalen Gang.
    Letzte Woche habe ich die Abschlussprüfungen abgelegt. Montag die schriftlichen, Freitag die mündlichen. Jetzt warte ich auf die Ergebnisse, aber ich weiß schon, dass ich bestanden habe.
    Und nun? Nun ist die Schule zu Ende, und vor mir sehe ich nichts. Ich möchte nicht mehr lernen. Lernen interessiert mich nicht. Ich war immer gut in der Schule, aber trotzdem bin ich fürs Lernen nicht gemacht.
    Was ist dann für mich gemacht?
    Ich weiß es nicht. Ach doch, ich bin ein Mädchen zum Heiraten: Ich kann nähen, das Haus in Ordnung halten, sticken. Das kann ich. Das mag ich auch.
    Und das, obwohl ich jetzt immer die vor Augen habe, wenn ich an einen Mann denke, und dann möchte ich nur noch allein in meinem Zimmer bleiben, das Radio laufen lassen, gar nichts tun und warten, dass es Nacht wird.
    Ja, stimmt, ich schlafe nicht, und ich träume nicht. Aber tagsüber muss ich den Leuten ins Gesicht sehen. Meiner Mutter, meinem Vater, den Verwandten. In der Nacht muss ich weder denken noch jemanden anschauen. Ich muss nur atmen. Und wenn die Nacht vorbei ist, muss ich nur wieder von Neuem anfangen, auf sie zu warten.
    Es ist jetzt eine Woche her, dass ich die Abschlussprüfungen abgelegt habe und dass ich die Wohnung nicht mehr verlassen habe. Ich gehe in die Küche. Aus der Schublade des Büfetts, das neben dem Ofen steht, nehme ich die Schere. Ich schließe mich im Bad ein. Die Wohnung ist leer. Mein Vater ist auf dem Feld. Meine Mutter arbeitet den ganzen Tag außer Haus, und meine Schwester ist bei Tante Tiziana.
    Es ist Mitte Juni und glühend heiß. Die Sonne strahlt. Ich stehe vor dem Spiegel und schminke mich. Kajal um die Augen. Ich verwische die schwarze Linie. Blauer Lidschatten. Lippenstift. Ich drücke den Stift fest auf die Lippen und dann verteile ich die Farbe mit den Fingern. Ich fahre mit der Zunge über meinen Mund und spitze die Lippen. Ich gebe ein wenig Lippenstift auf meine Finger und verwische ihn auf den Wangen. Dabei schaue ich mich immer noch im Spiegel an. Und halte die Arme hoch gestreckt über den Kopf, wie eine Balletttänzerin.
    Ich ziehe Grimassen. Lache. Dann blicke ich streng. Romantisch. Melancholisch.
    Ich betrachte mich im Spiegel und tanze im Schlafanzug. Ohne Musik. In der Junisonne.
    Dann nehme ich die Schere.
    Ich bin schön. Beinahe eine Frau.
    Schnapp.
    Ich öffne und schließe die Schere.
    Schnipp. Schnapp. Schnipp. Schnapp.
    Ich packe dicke Strähnen von meinen Haaren und schneide sie ab. Still und ohne Hast. Ganz, ganz kurz.
    Schnipp.
    Ich fahre mit einer Hand über die Wange. Sie ist feucht. Ich weine.
    Ich mache weiter.
    Schnapp.
    Als ich fertig bin, sammele ich im Waschbecken die Haare ein und werfe sie fort. Ich wasche mir das Gesicht. Während das Wasser läuft, färben sich meine Hände rot und schwarz.
    Ich schaue mich im Spiegel an. Betrachte den kleinen Spalt zwischen meinen Schneidezähnen. Den Leberfleck auf der linken Wange. Die Sommersprossen. Die Augen. Jetzt sieht man bloß noch meine Augen. Ohne Schminke.
    Das war das letzte Mal, dass ich mich im Spiegel ansehe.
    Das letzte Mal, dass ich geweint habe.
    Das Dorf
    »Wenn du schwanger wirst, schießen wir dir in den Bauch.«
    Und dann treten sie auf sie ein. Anna krümmt sich zusammen und betet, dass sie nicht schwanger ist, damit sie nicht noch mehr Prügel bekommt und damit sie nicht noch mehr von denen im Körper hat.

Der Friseursalon
    S eit fast einem Monat nehme ich jeden Morgen den Zug nach Taurianova. Die Anrufe haben aufgehört. Sie lassen mir ein wenig Ruhe. Domenico Iannello ist mit dem Laster unterwegs, und auch die anderen habe ich

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