Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)
reden.«
Aurora streichelt Annas Hände und umfasst sie mit ihren. Aber sie erwidert nichts.
Die Nacht füllt die Stille aus. Es wird Tag.
Meine einzigen Freunde
I ch wehre mich nicht mehr. Ich bringe meine Tage Stück für Stück herum. Ich bin viel mit dem Fahrrad unterwegs. Helfe meiner Mutter im Haushalt. Passe auf meine Schwester auf.
Die Arbeit musste ich aufgeben. Ich bin allergisch gegen die Chemikalien, die man beim Haarefärben verwendet. Mein Asthma ist schlimmer geworden.
Ich habe es so lange wie möglich ausgehalten, aber inzwischen bekomme ich keine Luft mehr. Ich bin wieder zu Hause. In San Martino. Keine Arbeit mehr. Keine Zugfahrten morgens mehr. Wieder lebe ich in Atemnot.
Gestern sind wir auch mit dem Einkochen des Tomatensugos für den Winter fertig geworden. Zusammen mit den Tanten. Wie immer standen überall im Hof unseres Hauses Töpfe, Weckgläser und Tomaten verteilt, die schönen langen roten aus unserer Gegend. Alle Frauen der Familie haben drei Tage lang Tomaten gekocht, enthäutet und passiert, Gefäße sterilisiert und Soße eingeweckt. Jetzt ist der Wintervorrat angelegt, und allmählich riecht unsere Küche auch nicht mehr so streng nach Tomaten.
Es waren arbeitsreiche, aber auch schöne Tage, in denen ich zugehört habe, wie über Taufen, Hochzeiten, Schwangerschaften in der Familie geklatscht wurde. Meine jüngeren Cousinen und ich haben keinen Ton gesagt, aber unsere Mütter haben uns zuhören lassen, auch dann, wenn es um die Männer und weibliche Verführungstricks ging. Und wir Mädchen haben gelacht und uns verschwörerisch zugezwinkert.
»Du musst folgsam sein, aber nicht zu sehr. Immer zur Stelle, aber immer beschäftigt. Ergeben, unermüdlich, niemals krank. Aber er muss schon wissen, dass du im Haus die Hosen anhast und dass du, wenn er es dir gegenüber an Respekt fehlen lässt, gehst und alles mitnimmst und ihn vor leeren Tellern und einem Berg ungewaschener Wäsche sitzen lässt.« Das ist in kurzen Worten die Methode meiner Mutter, wie man einen Mann an sich bindet. Und das, wo sie mit siebzehn geheiratet und mich bekommen hat, noch ehe sie volljährig war. Wo sie aus dem Haus ihres Vaters direkt in das meines Vaters übergewechselt ist.
Meine Tanten stimmen ihr jedoch zu.
Und alle sind sie sich einig, dass man kein großes Drama daraus machen sollte, wenn ein Mann fremdgeht.
»Jeder weiß doch, dass die ein wenig Abwechslung brauchen. Hauptsache, die Geliebte bleibt eine Geliebte und er kommt abends zum Essen nach Hause. Und dass er auch das Geld nach Hause bringt. Denn der Familie darf es nie an etwas fehlen.«
Solche Dinge erzählt man sich beim Tratsch im Hof.
Aber die Tage der Tomaten sind viel zu schnell vorüber. Jetzt ist die Wohnung wieder leer und mit ihnen meine Tage.
Ich bin fünfzehn. Habe keine Arbeit. Und keine Freunde. Meine Klassengefährten habe ich aus den Augen verloren, als ich beschlossen habe, von der Schule abzugehen.
Ich treffe mich allerdings mit Domenico Cucinotta, Cutrupi und den Brüdern Iannello. Ab und zu sind auch noch Freunde von ihnen dabei, aber raus aus dem Dorf fahren nur wir fünf. Ja, wie ich schon gesagt habe: Ich wehre mich nicht mehr. Ich habe mich den ganzen Sommer über mit ihnen getroffen. Öfters sind sie mit mir zum Stall gefahren. Und zu einem anderen abgelegenen Haus draußen auf dem Land.
Nach der Geschichte mit Schwester Mimma habe ich nicht mehr den Mut aufgebracht, irgendjemandem von der Sache zu erzählen. Sie rufen mich auf dem Handy an, und ich komme.
»Hallo Anna, wir müssen mit dir reden«, sagen sie zu mir. Das ist ihr Geheimcode. Ich weiß schon, was sie damit meinen. Und wenn sie mir einen Treffpunkt nennen, komme ich dorthin. Meist treffen wir uns vor meiner ehemaligen Schule, weil ich dort zu Fuß hinkomme und es vor allem nachmittags nach drei auch eine ziemlich verlassene Gegend ist.
Warum gehe ich hin?
Das frage ich mich die ganze Zeit. Jedes Mal, wenn ich mit dem Fahrrad oder zu Fuß unterwegs zum Schulhof bin. Jedes Mal, wenn ich das Fahrrad hinter einem hinter der Schule geparkten Lastwagen verstecke. Wenn ich allein dort stehe und auf ihren Wagen warte. Wenn ich sie kommen sehe. Dann frage ich mich: Warum bin ich hier?
Weil ich nicht will, dass sie jemandem erzählen, was wir tun. Wenn ich sie nicht wütend mache, wenn ich tue, was sie wollen, werden sie das Geheimnis bewahren. Das ist gut für sie und auch für mich. Wenn ich einen schlechten Ruf im Dorf bekäme, wäre das mein
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