Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)
seit Längerem nicht mehr im Dorf gesehen. Ich habe beschlossen, das auszunutzen.
Ich habe eine Arbeit gefunden: als Hilfskraft in einem Friseursalon. Hilfsfriseuse würde manch einer dazu sagen. Aber ich bin optimistisch und stelle es mir großartig vor, auch, weil ich sehr gut beim Frisieren und Färben bin. Und meine Chefin lässt mich schon mehr machen als bloß Haare waschen. Daher fühle ich mich nicht bloß als einfache »Kopfwäscherin«.
Es war nicht einfach, eine Arbeit zu finden. Zunächst war es völlig unmöglich, hier in San Martino etwas zu finden. Daher habe ich mich für Taurianova entschieden, weil es größer ist und mehr Möglichkeiten bietet. Außerdem kennt mich dort nicht jeder. Dort fühle ich mich freier und stärker.
Eine ganze Woche lang habe ich alle Geschäfte abgeklappert. Ich bin von Tür zu Tür gegangen und habe nach einer Stelle gefragt. Metzgereien, Bäckereien, Reisebüros. Es war mir egal. Viele haben mich gleich wieder fortgeschickt, weil ich nicht mit Computern umgehen kann und auch kein Englisch spreche. Im Schreiben bin ich auch nicht gerade die Schnellste. Aber ich kann gut mit Leuten umgehen. Ich habe viel Geduld, und alle mögen mich auf Anhieb.
Die Arbeit als Friseurin ist perfekt für mich.
Der Salon, wo ich jetzt arbeite, ist klein, hat nur ein Waschbecken und vier Sessel. Im Geschäft gibt es nur mich und die Chefin. Ich war ihr auf Anhieb sympathisch und umgekehrt. Mir gefällt sehr, was ich mache und was ich lerne. Ich arbeite sechs Stunden täglich. Ich verdiene zwar nicht viel, aber ich weiß, dass es ein Anfang ist.
Am meisten gefällt mir, dass ich von zu Hause fortkomme. Mir gefällt dieses neue Leben. Ich mag es, wenn die Damen mit meiner Arbeit zufrieden sind.
Sobald ich ein wenig Geld angespart habe, möchte ich mir ein neues Paar Schuhe kaufen. Und zwar keine billigen bei den Chinesen vom Flohmarkt. Markenschuhe, modische Schuhe.
Meinen Lohn liefere ich zu Hause ab. Ich gebe das Geld meiner Mutter. Aber das Trinkgeld behalte ich. Es ist nicht viel. Aber ich habe keine großen Wünsche, und auch das mit den Schuhen ist jetzt nicht so eilig.
Der Frisiersalon hat gerade zugemacht. Wieder ist ein Arbeitstag zu Ende gegangen. Aber die Sonne scheint noch. Obwohl schon Herbst ist, sind die Tage noch ziemlich lang.
Ich fahre nicht sofort nach Hause. Ich gehe ans Meer, bei Palmi. Ganz allein. Ich verbringe mein Leben allein. Inzwischen bin ich daran gewöhnt, und es gefällt mir recht gut. Ich hätte auch gern meine Schwester dabeigehabt. Aber das hier ist ein einsamer Ausflug, fast eine Flucht.
Am Strand verkauft eine Frau riesige Fische. Hinter ihr ist zwischen zwei Pfosten eine Schnur gespannt, auf der sie die Wäsche zum Trocknen am Strand aufgehängt hat. Ich mache einen langen Spaziergang und sauge Luft und Meer, Salz und Sand in mich auf.
Ich sammle alle Muscheln, die ich finde, und bevor ich gehe, vergrabe ich sie alle nebeneinander im nassen Sand am Ufer. Ich begrabe meine Angst, die Einsamkeit, meine Jungfräulichkeit. Zuletzt stecke ich meine Träume in den Sand. Und drücke sie mit den Fingern so tief wie möglich hinein.
Ich will nichts behalten. So kann ich auch nichts verlieren.
Als die Sonne langsam untergeht und der Himmel dunkel wird, gehe ich und kehre mit dem Zug nach Hause zurück. Nur eines nehme ich mit: die Feuchtigkeit des Sandes.
Das Dorf
»Mama, ich kriege keine Luft.«
»Beruhige dich, mein Schatz, ich bin ja da. Das geht gleich vorbei, das geht gleich vorbei.«
»Ich halt das nicht aus.«
Anna und Aurora sitzen in der Küche. Nur das Licht der Abzugshaube brennt. Der übrige Raum liegt im Dunkeln. Es ist zwei, vielleicht drei Uhr nachts.
Die anderen schlafen.
Aurora hält Anna im Arm.
»Das ist das Asthma, es geht gleich vorüber. Ich bin ja bei dir.«
Das Dorf schweigt.
Es ist eine ruhige Nacht.
»Mama, habe ich etwas falsch gemacht?«
»Womit denn, mein Schatz?«
»Dass ich Gerechtigkeit verlange.«
»Nein.«
»Dass ich geredet habe.«
»Nein.«
»Aber jetzt sind alle wütend auf uns.«
»Wir stehen zu dir, das weißt du.«
»Mama, alle hassen uns jetzt. Papa findet keine Arbeit mehr. Und du hast auch Probleme. Ich kann nicht aus dem Haus. Und das ist alles meine Schuld.«
»Anna, sag so was nicht.«
»Mama, was habe ich denn nur getan?«
»Reg dich nicht auf. Das geht vorbei. Wir bitten die Großeltern, deine Onkel und Tanten um Hilfe, das schaffen wir schon.«
»Mama …«
»Ja?«
»Ich musste
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