Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)
keine Luft mehr. Auch meine Schwester kann nicht aufhören zu lachen.
»Also kommt … seid brave Mädchen. Fangt schon mal mit Tischdecken an. Anna, mach doch die Hähnchenschnitzel, bald kommt dein Vater nach Hause, und es ist Zeit fürs Abendessen.«
Ich schlucke schwer. Und ziehe meine Schwester hinter mir her.
Meine Mutter beobachtet uns. Wir gehen noch einmal ins Zimmer zurück und richten die Decken auf dem Bett, die bei unserer Balgerei durcheinandergeraten sind. Wir gehen in die Küche, um das Essen vorzubereiten.
Heute ist Dienstag. Domenico Iannello hat mir gesagt, dass er am Freitag mit dem Lastwagen zurückkommt und dass wir uns dann treffen müssen. Und er hat mir gesagt, dass ich meine Schwester mitbringen soll.
Das Dorf
Sie wohnen alle in der Via Garibaldi. Besser gesagt, viele von ihnen. Ihre Familien. San Martino ist ein kleiner Ort. Und die Via Garibaldi ist eine kleine Straße.
Anna Maria wohnt in Hausnummer 35. Ein Sozialbau. Hinter dem Haus beginnen die Felder. Vor dem Haus führen die Eisenbahngleise vorbei. Auf der einen Seite Mandarinenbäume, so weit das Auge reicht. Auf der anderen verrostete Gleise.
Um sie herum die.
Sie stehen auf den Türschwellen. Auf den Balkonen. Auf der Straße. Immer sie. Dort. Ganz nah.
Man hört ihre laufenden Fernseher. Wie sie das Geschirr auf den Tisch stellen. Ihren Hass.
Ja, denn sie hassen Anna. Nicht, weil sie das getan hat. Oder vielleicht auch dafür. Sie hassen sie, weil sie das Gesetz des Schweigens gebrochen hat. Weil sie geredet hat.
Es hilft nichts, das Haus zu verlassen. Sie sind immer in der Nähe.
Das Ende des Schweigens
D er Brunnen.
Die Pistole.
Meine Schwester.
Iannellos Lastwagen.
Wasser. Eisen. Duftendes Haar. Der Gestank nach verbranntem Reifengummi. In meinem Kopf dreht sich alles wie ein Karussell. Wie soll ich das anhalten? Die Musik? Das Karussell dreht sich. Alles dreht sich. Wie kann ich mich anhalten?
Ich habe sie seit einer Woche nicht gesehen. Ich will sie nie mehr sehen. Gestern Abend hat Domenico Iannello wieder gesagt, dass er mich in seinem Lastwagen mitnehmen will, wenn er die nächste Tour hat. Diesmal hat er mir ein genaues Datum genannt. Das hat er vorher noch nie getan.
Aber das ist es nicht, was mir Angst macht. Ich sehe ihn vor mir, wie er sagt: »Freitag bringst du deine Schwester mit.«
Mein Körper reagiert nicht. Seit drei Jahren fühlt mein Körper nichts mehr. Aber jetzt fordert das Herz seinen Raum. Es hat wieder angefangen zu schlagen. Es schlägt heftig. Und sucht nach Raum. Ich fühle es in meiner Brust, wie es nach draußen drängt, wie es meine Brust zu sprengen scheint. Ich kann niemanden um Hilfe bitten.
* * *
Bevor ich das Haus verlasse, betrachte ich lange meinen Vater. Er ist gerade von der Arbeit heimgekommen. Um vier Uhr morgens ist er aus dem Haus gegangen, und jetzt ist er eben von den Feldern gekommen, hat Erde an den Schuhen, unter den Fingernägeln, in den Haaren mitgebracht. Jetzt sitzt er auf einem Stuhl in der Küche und starrt ins Leere.
Ich schaue meine Mutter an, die schweigend das Essen für ihn zubereitet.
Und denke: Jetzt erzähle ich ihm alles. Jetzt setze ich mich ans andere Ende des Tisches, sehe meinem Vater in die Augen und erzähle ihm alles.
Das gäbe ein schönes Theater.
Aber ich habe es nicht getan, als ich dreizehn war, und würde es jetzt auch nicht tun. Mit ihnen kann ich nicht reden. Ich weiß schon, was sie sagen würden. Dass ich still sein soll. Dass ich Schande über die Familie bringe, die ganze Familie ins Verderben reiße. Dass ich sie alle ruiniere, wenn allgemein bekannt wird, was mir passiert ist. Mein Vater würde außerdem denken, ich sei selbst schuld. Mein Vater ist kein schlechter Mann. Aber ein Mann alter Schule, einer, der in San Martino geboren wurde und immer dort gelebt hat, mit den Regeln und Grundsätzen dieses Landes, wo ein Mann ein Mann ist und eine Frau eine Frau.
Ich möchte nicht, dass mein Vater wütend auf mich wird. Heute Morgen habe ich, bevor ich das Haus verließ, lange meine Schwester angesehen. Sie ist so schön. Seit einem Monat arbeite ich jetzt in einer Rosticceria in Taurianova. Jeden Abend, wenn ich nach Hause komme, stinke ich nach Frittierfett. Meine Haut und meine Haare stinken. Der Teig der Reisbällchen klebt unter meinen Fingernägeln wie die Erde unter denen meines Vaters. Aber wenigstens tue ich etwas. Ich verlasse das Haus. Ich gehe arbeiten. Der Tag verfliegt. Wenn man in einer Küche an der
Weitere Kostenlose Bücher