Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)
ich das nicht erwähnt? Ja. Sie haben Waffen. Ich habe sie öfter gesehen. Und eines Tages haben sie mir den Lauf einer Pistole in den Mund gesteckt.
»Wenn du erzählst, was wir hier machen, bringen wir dich um.«
Sie haben gelacht und mir den Lauf immer weiter in die Kehle geschoben. Ich weiß nicht, ob die Pistole geladen war. Und ich will es auch nicht wissen.
Jetzt erzähle ich das so, als wäre das ganz normal. Es ist eine Weile her. Es war das einzige Mal. Ich will nicht, dass es noch mal vorkommt.
Das Dorf
Steine schlagen gegen das Fenster. Die Läden sind geschlossen. Zuerst kommen nur wenige. Dann ganz viele auf einmal. Mitten am Tag.
Anna ist allein zu Hause. Sie dreht das Radio ganz laut auf.
Ich werde dich heiraten,
du musst nicht mehr warten.
Ich habe dich gesucht und gefunden,
alles in einem Moment.
Und aus Sorge, dich zu verlieren,
mache ich ein Foto von dir.
Der Steinhagel geht weiter. Die Musik läuft.
Jeder Stein ist anders.
Die einen beschuldigen sie: »Hure.«
Andere drohen: »Wir verbrennen dich. Wir verbrennen dich bei lebendigem Leib.«
Und wieder andere schweigen.
Manche Leute spucken vor Anna aus, wenn sie ihr auf der Straße begegnen. Andere starren sie bloß herausfordernd an. Fahren unter ihrem Fenster vorbei. Warten am Ausgang des Ladens auf sie. Und dann gibt es Leute, die sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern und wegschauen.
Die Steine schlagen gegen das geschlossene Fenster.
Jeder hört sich anders an. Jeder tut auf seine Art weh.
Und so ganz allmählich türmen sie sich zu einem Haufen auf.
Deine Schwester
I ch bürste meiner Schwester die Haare. Sie hat sich blond gefärbt. So kommt sie mir ein wenig fremd vor. Aber sie ist so schön. So schön, wie ich einmal war. Auch sie ist jetzt dreizehn. Sie liebt Schuhe mit hohen Absätzen und zieht sich immer sehr sorgfältig an. Bei uns zu Hause haben wir bestimmt nicht viel Geld für Kleidung. Unser zweitüriger Kleiderschrank reicht für uns beide, und dabei sind dort die Sommer- und Winterkleidung und dazu noch die Unterwäsche und Decken untergebracht. Sie ist jedoch sehr gut darin, Sachen umzugestalten oder zu kombinieren und Farben zusammenzustellen.
Heute ist Sonntag, und die Rosticceria hat geschlossen. Morgens habe ich ihr eine Olivenölpackung für die Haare gemacht. Dann habe ich ihren Kopf mit Klarsichtfolie umwickelt. Und nach einer Stunde habe ich ihr beim Ausspülen geholfen. Jetzt glänzen ihre Haare und sind ganz weich.
»Was möchtest du werden, wenn du mal groß bist?«, fragt sie mich unvermittelt, während ich ihre Haare bürste.
»Ich?«
»Ja, wenn du groß bist.«
»Ich bin schon groß.«
Sie dreht sich zu mir um. Wir sitzen beide auf meinem Bett. Ihre Haare sind ganz weich. Sie schaut mich an, und ich muss ihr antworten.
»Jetzt arbeite ich in der Rosticceria. Aber ich möchte nicht für immer dort bleiben. Die Arbeit als Friseurin hat mir gefallen, und vielleicht könnte ich mich ja aufs Frisieren spezialisieren oder Kosmetikerin werden.«
»Wie schön.«
Ihr gefällt meine Wahl.
»Und du? Was möchtest du machen, wenn du groß bist?«
Meine Schwester und ich verbringen ganze Tage damit, über nichts Besonderes zu reden. Uns Fragen zu stellen und darauf zu antworten, wobei die Antworten immer wieder anders ausfallen.
Was würde ich ohne sie machen?
»Ich? Ich möchte durch die Welt ziehen. Und dann möchte ich heiraten«, erwidert sie.
»Du möchtest heiraten?« Ich stürze mich auf sie, um sie zu kitzeln.
Sie windet sich, lacht und schüttelt ihre Haare, die noch nach Öl und Oliven duften.
»Ja. Und ich möchte ein großes Fest, und mein Kleid muss ganz weiß sein und einen ellenlangen Schleier haben. Und dann will ich eine mindestens dreistöckige Torte. Aber zuerst musst du heiraten, nicht wahr, Anna? Sonst kann ich nicht heiraten, weil ich doch die Jüngere bin. Hast du schon einen Verlobten?«
Wie schön meine Schwester ist. Sie ist genau wie ich.
»Nein, ich habe keinen Verlobten, und ich will auch nicht heiraten. Du kannst ruhig als Erste heiraten.«
Ich habe wieder das Brautkleid vor Augen, von dem ich mit dreizehn geträumt habe, das mit den drei Rosen und der Schleppe.
Sie hüpft auf dem Bett herum. Ich werfe mich wieder auf sie, und wir umarmen uns. Wir lachen. Und kitzeln uns gegenseitig.
»Was treibt ihr denn hier? Seid ein bisschen leise. Was soll denn dieser Krach?«
Meine Mutter steht in der Tür. Wir springen auf, ich bekomme vor Lachen fast
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