Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)
Verlobten.«
Zwei Frauen nähern sich Anna Maria auf der Straße. Packen sie am Arm. Eine von vorn, eine von hinten. An der Seite ist eine Hausmauer.
»Nein. Das stimmt nicht. Nein.«
»Und warum gibt es dann diese Gerüchte?«, sagt die erste.
»Warum?«, wiederholt die zweite.
»Das weiß ich nicht. Ich treffe mich mit niemandem. Und jetzt lasst mich los, ich muss nach Hause.«
Die erste lockert den Griff. Dann die zweite.
Beide treten einen Schritt zurück.
Anna drängt sich durch. Langsam geht sie nach Hause, ohne sich einmal umzudrehen.
Die Kaserne
D omenico Cucinotta habe ich als Ersten kennengelernt. Das war am 11. März 1999, ich erinnere mich so genau daran, weil es mein Geburtstag war. Ich hatte das Haus verlassen, um die Zutaten für die Torte zu kaufen, und da hat mich Cucinotta, in dessen Wagen auch Domenico Iannello saß, angesprochen. Ich bin nicht gleich stehen geblieben, aber da er mir mit dem Wagen gefolgt ist, bin ich dann doch stehen geblieben.«
Ich beginne zu erzählen. Zwei Fremden erzähle ich alles. Dem Capitano der Carabinieri von Taurianova und einem Brigadiere, der ihm nicht von der Seite weicht. Maresciallo C. ist ebenfalls da, aber er verlässt immer wieder den Raum.
Das erste Mal bleibe ich sechs Stunden in der Kaserne von Taurianova. Bis um elf Uhr abends. Ich erzähle alles, ohne eine einzige Träne. Ich sitze vorne auf der Stuhlkante. Stütze mich mit den Händen auf den Schreibtisch und erzähle.
Ich glaube nicht, dass ich besonders viel Mut habe. Oder besonders stark bin. Ich musste es tun, also tue ich es. Hass empfinde ich dabei nicht, weder denen noch mir gegenüber. Es ist eben geschehen. Ich denke nicht an das, was danach passieren wird. Oder an das, was bereits passiert ist. Ich erzähle das Vergangene einfach so, wie es gewesen ist. Mit dreizehn war ich noch zu klein, um es zu begreifen. Auch jetzt bin ich nicht viel älter, aber diese letzten drei Jahre sind endlos lang gewesen, und jetzt bin ich alt genug, um eins zu begreifen: Sie dürfen meine Schwester nicht in die Finger bekommen.
Um neun Uhr abends sitze ich immer noch in der Kaserne.
»Capitano?«
Der Capitano sieht mir in die Augen. Ab und an fährt er sich mit einer Hand in den Nacken und dann von hinten über den Kopf. Wenn er das tut, unterbreche ich meine Erzählung, um sie gleich danach wieder aufzunehmen. Er hat die Mütze abgesetzt und den Knoten seiner Krawatte gelockert. Nie lässt er mich aus den Augen.
Der Brigadiere schreibt unser gesamtes Gespräch mit.
»Capitano, ich müsste zu Hause Bescheid geben, aber ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wir brauchen einen Vorwand. Ich kann nicht sagen, dass ich hier bei Ihnen bin, sonst bekomme ich ziemliche Schwierigkeiten.«
Ich habe den ganzen Arbeitstag versäumt. Die Besitzerin der Rosticceria weiß, dass ich bei den Carabinieri bin. Aber ich möchte nicht, dass meine Mutter oder mein Vater wütend werden. Sie wissen nichts. Noch nicht. Aber jetzt werden sie es erfahren … allein der Gedanke daran nimmt mir den Atem.
»Hast du Hunger, Anna?« Der Capitano durchbricht die Panik in meinen Augen und geht mit einer Frage darauf ein. »Ja, schon ein bisschen«, meine ich unsicher.
»Brigadiere, lassen Sie drei Pizzas kommen, jetzt essen wir erst mal, dann bringen wir dich nach Hause und machen morgen weiter.«
Wir machen noch eine Stunde weiter, bis die Pizzas kommen.
Wie gut diese Pizza schmeckt. Wie gut eine Pizza schmeckt, wenn man endlich in Sicherheit ist.
Als wir fertig sind, sage ich dem Capitano, dass ich lieber allein nach Hause gehen möchte. Ich werde mir eine Ausrede einfallen lassen, irgendein Problem in der Küche. Ich verlasse die Kaserne und kehre in die Rosticceria zurück. Die Chefin räumt gerade die Küche auf. Ich danke ihr für ihre Hilfe und sage ihr, ich hätte ein großes privates Problem gehabt. Sie ist freundlich und stellt mir keine Fragen. Vielleicht ahnt sie etwas. Sie vertraut mir.
Ich helfe ihr bei den letzten Aufräumarbeiten, und danach bringt sie mich mit ihrem Wagen nach San Martino.
Ich weiß nicht, warum sie nicht ärgerlich ist, dass ich mir den Tag frei genommen habe, und warum sie mir keine Fragen gestellt hat. Aber es war so selbstverständlich. Es musste so sein. In ihrer Rosticceria habe ich den Mut gefunden, alles anzuzeigen, es gab eigentlich keinen besonderen Grund, aber ich werde ihr immer dankbar sein, auch dafür, dass sie mich nach Hause gefahren hat und dass sie mir einfach vertraut
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