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Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)

Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)

Titel: Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Maria Scarfò
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nah zu mir. Die ganze Nacht bleiben wir in enger Umarmung so sitzen. Das ist Liebe. Selbst wenn sie das alles nicht versteht. Selbst wenn sie es vielleicht lieber gehabt hätte, dass ich erst mit ihr und dann mit den Carabinieri geredet hätte, liebt sie mich und steht auf meiner Seite.
    Sie weiß schon, dass ich nicht mit ihr darüber sprechen konnte, dass ich rausmusste aus diesem Leben. Und dass sie mich, wenn ich geredet hätte, vielleicht beschützt, aber niemals zu den Carabinieri geschickt hätte.
    Ich habe die Anzeige nicht zurückgezogen. Und jetzt bin ich im Garten unter dem Mandarinenbaum.
    Heute Nacht schlafe ich nicht im Haus. Es regnet in Strömen, mir ist kalt, der Mond steht schweigend am Himmel. Aber ich bleibe hier, denn es ist besser so. Und man wird sehen, was morgen geschieht.
    Ich denke wieder an ein Morgen. Und das gefällt mir. Das habe ich seit drei Jahren nicht mehr erlebt. Ein vollkommen neues Gefühl für mich. Und es gibt mir die Kraft, den Regen zu trinken und nicht zu weinen.
    Ich sehe meine Schwester, die ihr Gesicht gegen die Fensterscheibe presst und hinausschaut. Sie sucht mich. Sie ist ahnungslos.
    Ich bleibe die ganze Nacht über im Garten. Ich fliehe nicht, aber ich gehe auch nicht ins Haus zurück. Durstig sauge ich den Regen in mich ein. Ich, die ich seit drei Jahren nicht mehr weinen und mich nicht mehr im Spiegel ansehen kann, trinke die Tränen des Himmels und stille so meinen Durst.
    Am 19. September geht meine Mutter zu den Carabinieri und schließt sich meiner Anzeige an.
    Am 18. Oktober 2002 erteilt Staatsanwalt Giuseppe Adorno die Anordnung zur telefonischen Überwachung. Und ich werde vom Untersuchungsrichter gehört.
    Das Dorf
    »Kommen Sie! Kommen Sie schnell!«
    Ein Anruf bei der Notrufzentrale der Carabinieri.
    Es ist Anna. Sie weint und schreit.
    Sofort ist ein Wagen da. Die Kaserne liegt in der Nähe.
    Die Carabinieri müssen länger an die Tür klopfen.
    Zunächst antwortet Anna nicht, dann weigert sie sich, die Tür zu öffnen. Als die Carabinieri endlich hereinkommen, sehen sie, dass sie weint. Anna ist allein zu Hause. Sie sitzt weinend am Küchentisch.
    »Was ist passiert?«
    Alles wirkt ruhig.
    »Ich habe Angst. Solche Angst.«
    Den Carabinieri gelingt es, Anna zu beruhigen. Mit einem großen Glas Wasser in den Händen, aus dem sie in kleinen Schlucken trinkt, beginnt Anna zu erzählen.
    »Ich war allein zu Hause. Lag auf meinem Bett. Lag nur so da, als ich jemanden schreien hörte: ›Nesci fuora puttana. Nesci fuora. Se sta vota ciu dici e carabinieri, ti bruci, ti ammazzo. Nesci fuora puttana.‹ (Komm raus, du Nutte. Komm raus. Wenn du’s diesmal den Carabinieri sagst, dann zünd ich dich an, ich bring dich um. Komm raus, du Nutte.) Ich habe nicht reagiert. Der Mann hat weitergebrüllt, und dann habe ich Reifen quietschen gehört. Da bin ich aufgestanden und habe Sie angerufen. Der will mich wirklich umbringen.«

Die Avvocatessa
    A nna Maria, dieser Prozess wird nicht einfach. Du musst auf alles gefasst sein, und wenn du willst, dass ich dich vertrete, musst du mir vor allem eins versprechen: Du darfst nie wieder Angst haben und musst klar und unumwunden alles erzählen, was geschehen ist. Du musst alles erzählen, sonst wird dir niemand glauben.«
    Das sind die ersten Worte, die die Avvocatessa zu mir sagt. Sie heißt Rosalba Sciarrone.
    Sie macht mir richtig Angst: »Man wird dich beschimpfen. Die werden schlimme Worte benutzen, alles daransetzen, um dich von einem Opfer zu einer zu machen, die das Ganze selbst herausgefordert hat. Bist du wirklich dazu bereit? Denn du wirst allein sein. Du wirst alles allein tun müssen.«
    Sie jagt mir Angst ein. Aber ich mag sie sofort, weil sie klare Worte spricht und nicht versucht, alles einfacher erscheinen zu lassen, als es ist. Im Gegenteil. Sie sagt mir gleich, was passieren wird.
    Ich nenne sie Avvocatessa , Anwältin, obwohl ich weiß, dass man im Italienischen eigentlich die männliche Form benutzen würde und Signora Avvocato, Frau Anwalt sagt.
    Ich habe zwar nicht studiert, aber ich habe schon immer ein fehlerfreies Italienisch gesprochen, was bei uns, wo viele nur Dialekt sprechen, keine Selbstverständlichkeit ist. Und ich nenne sie auch nur so, um sie damit von ihrem Mann, dem Avvocato , zu unterscheiden. Er ist ein berühmter Strafrechtspezialist. Aber auch meine Avvocatessa ist gut. Ja, sie ist gut.
    Mein Prozess zieht sich hin, aber ich gebe nicht auf, selbst als ich denke, dass uns niemand

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