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Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)

Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)

Titel: Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Maria Scarfò
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Ich ertrage diese Blicke nicht und diese Wortfetzen, die ich von ihren Lippen ablese. Es sind nie ganze Worte, und ich muss sie nicht hören, um zu wissen, dass es sich um Drohungen handelt. Diese Drohungen lese ich in den grimmigen Falten um ihren Mund, in den zusammengepressten, gekräuselten Lippen, in den nach oben gezogenen Augenbrauen. Drohungen muss man nicht hören. Man sieht sie auf den Gesichtern der Leute.
    Aber sie können mich nicht zu Hause einsperren. Heute ist das Dorffest, und meine Schwester und ich sind auf die Piazza gekommen. Wir halten uns bei den Händen und folgen inmitten der Menge dem Heiligen Martin. Wir schauen vor uns und folgen unserem Heiligen, denn der Heilige Martin gehört allen. Selbst wenn ich nicht Beifall klatsche.
    Jemand schießt Böller in die Luft. Hunde bellen, kleine Kinder weinen. Das ganze Dorf bewegt sich langsam hinter der Statue her. In der ersten Reihe drei Ministranten ganz in Weiß, einer hält einen Stock in die Höhe, an dem der Lautsprecher befestigt ist. Der Pfarrer liest die Messe. Die Dorfkapelle spielt. Und der Heilige Martin bedroht mit gezücktem Schwert sein Dorf.
    Überall sind Carabinieri. Wenn ich sie ansehe, verfliegt meine Angst, und ich laufe weiter, halte meine Schwester ganz fest bei der Hand.
    Die Mädchen aus dem Dorf sind alle geschminkt, tragen hohe Stiefel und ganz kurze Jäckchen, die sie auf dem Markt von Soverato gekauft haben. Unter den Hosen zeichnen sich Spitzentangas ab. Eigentlich hat jede von ihnen schwarze Haare, aber alle haben sie gefärbt. Und so sieht man in der Menge ein schwankendes Meer aus blonden, roten, kastanienbraunen Köpfen, mit Extensions oder mit geglätteten Haaren.
    Liebespärchen laufen Arm in Arm. Die jungen Männer haben alle das Handy in der Hand und verschicken SMS . Die älteren Damen sind beim Friseur gewesen, und ihre mit Haarspray festbetonierten grauen Haare trotzen standhaft dem Wind. Mütter schieben Kinderwagen mit zwei oder drei Kindern, die sich darauf festklammern. Die Trompeten klingen hell. Freundinnen haben sich untergehakt und schlendern hüftwackelnd vorbei, gefolgt von Jungs in Dreiergrüppchen.
    Das Dorf hat sich festlich herausgeputzt. Auf der Hauptstraße hat man die Lichtergirlanden angebracht. Sie werden heute Abend brennen. Und da sind schon die Stände mit den rot-weiß gestreiften Schirmen, den kandierten und den getrockneten Früchten.
    Wir sind alle da. Zweitausend Menschen. Vielleicht etwas weniger. Wir kennen einander. Grüßen einander. Wir zeigen uns. Laufen hinter dem Heiligen her.
    Es ist November und ein wirklich warmer Tag.
    Das Dorf
    Der Wagen fährt durch die Straßen des Dorfes. Anna hat sich zwischen den Sitzen zusammengekauert. Über ihr liegen die Jacken. Alle sehen das Auto. Einige sehen auch Anna. Viele wissen Bescheid. Inzwischen ist es kein Geheimnis mehr. Man gibt damit an.
    Niemand stoppt diesen Wagen. Niemand stellt Fragen. Das Dorf lebt sein Leben weiter, es schaut zu und beginnt zu reden. Zunächst spricht man nur zu Hause, mit den Verwandten, dann mit den Freunden. Auf der Piazza. In der Kirche.
    Es ist kein Geheimnis mehr.

Der Eselstanz
    V or und zurück. Vor. Drehen. Drehen. Drehen . U ciucciu sulu un ba a nessuna parti (Der Esel kommt allein nirgendwohin). Genau wie mein Dorf. Aber der Esel tanzt, tanzt in der Dunkelheit, und aus seinem Maul kommt Feuer. Die beleuchtete Kirche schwebt über der eifrig klatschenden Menge.
    Ta, Ta, Ta.
    Die Tarantella beginnt. U ciucciu , der Esel, dreht sich, das Dorf tanzt durch den Rauch, der von den gerösteten Maroni aufsteigt, und den würzigen Duft des neuen Weins.
    Der Esel ist aus Holz, und ein Mann in einem weißen T-Shirt mit bis zu den Unterschenkeln aufgekrempelten Jeans und nackten Füßen trägt ihn auf dem Kopf. Vor. Und zurück. Der Mann verschlingt die Füße ineinander. Er dreht sich und springt. Der Eselsmensch wird nie müde. Er tanzt, und das ganze Dorf schlägt mit Händen und Füßen den Takt dazu. Der ganze Platz tanzt. Vor und zurück, und er kommt doch nicht vorwärts, nirgendwohin.
    Der Esel spuckt Licht, Sterne und Leuchtfäden. Der Mann beugt sich unter diesem Lichtregen. Die Tamburine schlagen den Takt.
    Ta, Ta, Ta. U ciucciu wird zum Feuerball.
    Meine Augen brennen.
    Heute Morgen die Prozession und am Abend das große Fest auf der Piazza mit der Musik und dem Eselstanz. Heute kennt das Dorf keine Müdigkeit. Ich bin auch am Abend ausgegangen. Aber diesmal allein.
    Von dem Tag an, an dem ich

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