Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)
alles angezeigt habe, sind die Drohungen immer penetranter geworden. Meine Mutter wollte nicht, dass ich heute Abend das Haus verlasse. Aber ich gebe nicht nach. Nicht meiner Mutter. Und nicht denen.
Ich will mich nicht verstecken. Sollen sie mich doch beschimpfen. Mich bedrohen. Was können sie mir schon tun? Niemand kann mir mehr etwas antun. Denn sie haben schon alles getan, und sie kennen die Wahrheit, genau wie ich.
Und ich weiß noch etwas: Ich weiß, was morgen geschehen wird. Deshalb fühle ich mich stark. Deshalb habe ich meine Schwester heute Morgen auf die Piazza gebracht, damit wir uns die Prozession ansehen, und deshalb bin ich heute Abend gekommen, um mir dort das Feuerspektakel anzusehen. Ich schließe die Augen.
Ta, Ta, Ta.
Der Rhythmus wird schneller. Und ich lasse den Esel sich drehen. Verlasse die vom Feuerwerk beleuchtete Piazza, wo die Musik das Raunen der Menge übertönt, die Stimmen, die Drohungen. Ich gehe nach Hause. Auf dem Heimweg erkenne ich keinen Menschen. Ich sehe nur Augen, Münder. Ich rieche Haut und geröstete Maronen. Rauch und Wein. Eau de toilette für Männer aus dem Supermarkt, Haarspray und Aftershave.
Ohne es zu bemerken, beginne ich mit gesenktem Blick zu rennen, presse mir die Hände auf die Ohren, um nichts zu hören. Mein Körper muss rennen, und mein Kopf braucht die Stille.
Das Dorf mag es nicht, wenn man es herausfordert.
Die Musik hallt in meinem Herzen wider, und ich kann sie nicht daraus vertreiben.
Ta, Ta, Ta.
In der Nacht vom 12. auf den 13. November klopfen die Carabinieri an sechs Türen. Sie gehen zu Domenico Cucinotta, Domenico Cutrupi, Domenico und Michele Iannello, Serafino Trinci und Vincenzo La Torre. Mit einem Haftbefehl.
Ich bin zu Hause. In meinem Zimmer. Aber wenn ihre Frauen, ihre Mütter, ihre Verlobten die Tür öffnen, werden sie mich vor sich sehen.
Ta, Ta … t … a
Endlich verklingt die Musik.
Stille.
Das Dorf
»Also, diese Scarfòs sind doch wirklich unverschämt.«
»Was haben sie denn jetzt wieder angestellt?«
Die beiden Frauen sprechen auf dem Kirchplatz miteinander, bevor sie zur Messe gehen.
»Ich habe gehört, dass die Gemeinde von Taurianova der und ihrer Familie eine Wohnung und sogar eine feste Stelle für den Vater angeboten hat, aber sie haben abgelehnt.«
»Eine Wohnung und eine feste Stelle?«
»Ich schwöre es dir. Das weiß ich genau. Mein Vetter arbeitet in der Gemeindeverwaltung von Taurianova.«
»Und warum?«
»Weißt du, nach den Zeitungsartikeln und dieser Geschichte mit dem Stalking … Stolking … oder wie heißt das noch?«
»Und sie haben abgelehnt?«
»Eine meiner Cousinen, die auch mit denen verwandt ist und deshalb mit denen redet, hat mir erzählt, sie wollen San Martino nicht verlassen, weil sie Angst haben, dass man sie dann in einen Topf mit den Mafiazeugen wirft.«
»Worüber beschweren die sich dann? Die wollen doch hier bleiben.«
»Also ich glaube, die fühlen sich jetzt wie was ganz Besonderes. Die machen sich einen Spaß daraus, uns zu reizen, und danach rufen sie sofort die Carabinieri, und die Ärmsten müssen dann angerannt kommen.«
»Was für eine Geschichte.«
»Einfach unverschämt.«
»Hat in der Zeitung gestanden, dass sie die Wohnung und die Stelle abgelehnt haben?«
»Na … die Zeitungen schreiben doch auch nicht alles. Nur das, was ihnen in den Kram passt.«
»Lass uns gehen, die Messe beginnt gleich.«
»O ja, ich muss ein Ave Maria für dieses unglückselige Mädchen sprechen, vielleicht kommt sie ja zur Vernunft.«
»Was für eine Geschichte.«
»Unverschämt.«
Der neue Hosenanzug
I ch habe mir ein neues Ensemble gekauft. Graue Hosen und eine graue Jacke aus einem leicht glänzenden Stoff. Diese Sachen habe ich für den Prozess gekauft.
Ich habe die Brüder Iannello angezeigt, und Cutrupi und Cucinotta. Aber sie waren nicht die Einzigen.
Ich habe der Avvocatessa nicht alles erzählt, ja, nicht einmal Ihnen. Oh, mein Gott, nein.
Aber ich musste irgendwo anfangen. Und da habe ich mit denen begonnen, weil sie die Ersten waren.
Ich konnte nicht gleich alles erzählen, dann hätte mir niemand geglaubt, nicht einmal Sie. Man muss es Schritt für Schritt angehen.
Kalabrien ist ein Land mit einer tiefen Seele, und die muss man langsam entdecken, man darf sie nicht provozieren, sonst kommt man nicht weit. Ich habe nicht alle Männer angezeigt, die mich missbraucht haben, weil einige von ihnen gefährlich sind. Sie laufen bewaffnet herum, sind Mafiosi.
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