Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)
einmal. Sie schließt die Tür, dann erscheint sie in der Tür meines Zimmers.
»Anna, was hast du getan? Anna, sind wir in Schwierigkeiten?«
Ich weiß nicht, wie Michele herausgefunden hat, dass ich bei den Carabinieri war. Vielleicht hat mich jemand dabei beobachtet, wie ich die Kaserne betreten oder verlassen habe. Oder vielleicht haben ihn die beiden gewarnt, die als Zeugen gehört wurden.
Am Nachmittag gehe ich wieder in die Kaserne. Wie immer ist der Capitano da.
»Capitano.«
»Ciao, Anna, alles in Ordnung bei dir?«
»Nein. Mein Vater und meine Mutter stehen draußen vor dem Tor. Michele Iannello hat von der Anzeige erfahren und hat ihnen gesagt, dass wir sie zurückziehen sollen. Meine Eltern stehen dort unten und warten.«
Wir sitzen in einem Büro im ersten Stock. Der Capitano steht auf und geht zum Fenster, um nachzusehen, ob meine Eltern wirklich dort unten stehen. Sie sind da.
Er kehrt zu seinem Schreibtisch zurück. Setzt sich hin und schweigt ein paar Minuten. Vielleicht auch weniger. Dann steht er wieder auf.
»Und was willst du selbst, Anna?« Der Capitano geht um den Schreibtisch herum und kommt auf mich zu. Er sieht mir in die Augen. Sein Gesicht ist entschlossen. Er sieht mich gelassen und energisch an. Ist so nah bei mir. Und erwartet eine Antwort von mir.
»Capitano, ich … ich will sie nicht zurückziehen. Ich will weitermachen.«
Ich bin ein junges Mädchen. Sechzehn Jahre alt. Und ich bin von der Schule abgegangen. Ich habe nichts und bin ein Niemand geworden. Aber ich bin es leid. Ich bin an meine Grenzen gekommen. An den Punkt, wo der Schmerz stärker wird als die Furcht. Jetzt ist es Zeit, »Schluss damit!« zu sagen, die Augen nicht mehr zu verschließen und all mein Nichts aufs Spiel zu setzen. Ich kehre nicht um.
»Capitano, ich mache weiter. Ich werde es meinen Eltern erklären. Entschuldigen Sie mich bitte.«
Das Dorf
Das Schwein quiekt. Man stößt ihm einen spitzen Haken in den Rüssel, und das gefesselte Tier wird zu einem schräg stehenden, abgenutzten Holztisch geschleppt. Die Oberfläche ist geneigt, damit das Blut in einen schwarzen Plastikeimer abfließen kann. Alles geht ganz schnell.
Zwei Männer legen das Tier auf die Platte. Sie schneiden ihm die Kehle durch. Zerteilen es. Gießen kochendes Wasser über den rosa Körper des Schweins und schaben die Borsten ab. Jeder Teil des Tieres wird zerschnitten, gekocht und später gegessen. Bei uns heißt das die »Maialata« – »Das Schweineschlachten«.
Das Schwein wird vorbereitet. Morgen wird ein Festtag sein.
Als Anna aufsteht und hinaus in den Garten geht, findet sie dort die aufgehängte Wäsche blutgetränkt vor. Die Wäschestücke triefen vor Blut und stinken. Zunächst begreift sie gar nichts. Sie geht näher heran. Berührt sie. Ihre Hand verfärbt sich von dem Blut. Sie schreit. Reißt die Wäscheleine herunter, dass die T-Shirts und Hosen auf den Boden fallen. Sie tritt sie mit Füßen und trampelt schreiend darauf herum. Sie schreit und wälzt sich auf der Erde, um das Blut nicht mehr sehen zu müssen.
Es ist das Blut aus dem Schweineeimer. Aber das weiß sie nicht.
Das Schwein quiekt wie am Spieß, und das Blut fließt über den alten Holztisch.
Meine Familie
I ch habe die Anzeige nicht zurückgezogen. Sie können sich vorstellen, wie mein Vater reagiert hat. Oder die Tränen meiner Mutter. Bis hierhin habe ich alles erzählt, ohne etwas zu verheimlichen, auszulassen oder abzuschwächen. Aber da ging es nur um mich und um sonst niemanden. Meine Eltern stehen auf einem anderen Blatt. Ihre Reaktion ist sehr menschlich. Diese Blicke. Diese Tränen. Ihre Angst. Ich habe nie Angst gehabt. Sie schon. Doch sie haben recht. Aus ihrer Sicht haben sie recht. Ich weiß bloß, dass sie mir jetzt zur Seite stehen. Und nur das zählt. Nur das. Ich weiß nur, dass ich weitergemacht habe.
Die Tage, in denen ich die angezeigt habe, möchte ich vergessen. Genau wie die Zeit danach.
In wenigen Monaten habe ich durch den ganzen Stress dreißig Kilo zugenommen. Weil ich zum ersten Mal wirklich allein war. Und ich hatte Angst.
Obwohl es nicht richtig ist, das zu sagen. Da waren die Carabinieri.
Ich liebe meinen Vater, obwohl ich kaum mit ihm rede. Manchmal spielen wir Karten, oder er geht mit mir in eine Bar, wo wir ein Eis essen.
Und ich liebe meine Mutter. Wenn ich nachts diese Asthmaanfälle bekomme und es nicht mehr in meinem Bett aushalte, steht sie ebenfalls auf und setzt sich mit mir in die Küche. Ganz
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