Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)
Jetzt ist es heraus, ich habe es gesagt. Aber mehr sage ich nicht, denn wir sind in Kalabrien, und ich habe zwar keine Angst, aber ich bin auch nicht naiv. Jeder in Kalabrien kennt die Regeln, und die kann man zwar ein wenig ändern, aber nicht völlig über den Haufen werfen. Ich bin nicht verrückt. Das bin ich nie gewesen. Glauben Sie jetzt nicht, mein Verhalten sei von Angst bestimmt oder schlimmer noch, dass ich lieber klein beigebe. Nein. Denn letzten Endes habe ich sie doch alle angezeigt. Als ich begriffen habe, dass die Justiz mir geglaubt hat, habe ich sie alle angezeigt. Als ich die Macht meiner Wahrheit erkannt habe, habe ich einen weiteren Prozess angestrengt.
Aber ich greife zu weit vor. Weil ich so aufgewühlt war, als ich mich an meinen ersten Verhandlungstag im Gericht von Palmi erinnerte. Ich werde bald auch von dem zweiten Prozess erzählen. Aber jetzt sind wir noch beim ersten. Ich hatte Ihnen gerade von dem neuen, sehr schicken Hosenanzug erzählt, den ich mir gekauft habe.
Doch im letzten Moment entscheide ich mich, ihn doch nicht anzuziehen. Ich will mich nicht anders fühlen als sonst, es ist unbehaglich. Das wird der schwerste Tag meines Lebens. Ich werde sie alle wiedersehen. Domenico Cucinotta, Michele, seinen Bruder, Cutrupi. Ich auf der Seite der Anklage, sie auf der anderen.
Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit sie verhaftet wurden.
Sie haben das abgekürzte Verfahren gewählt. Die Avvocatessa hat mir erklärt, das sei ein Vorteil. Wenn sie denn verurteilt würden, fiele ihre Strafe zwar etwas milder aus, aber das wäre trotzdem eine Art Schuldeingeständnis. Und das ist gut.
Aber ich vertraue auf nichts und niemanden. Und wenn der Richter denen glaubt? Ich bin bereit zu kämpfen. Und wenn ich schon kämpfen muss, will ich keinen neuen Anzug tragen, der nicht zu mir passt, in dem ich mich nicht zu Hause fühle. Der Richter, die, sie alle sollen keine herausgeputzte, falsche Anna Maria sehen, in einem teuren Hosenanzug aus glänzendem Stoff. Sie sollen mich so sehen, wie ich bin, wie ich jeden Tag bin. Meine Wahrheit muss bei mir selbst anfangen.
Deshalb lasse ich den neuen Anzug auf dem Bett liegen, obwohl meine Mutter heftig protestiert. Ich ziehe mir ein Paar Blue Jeans an, ein Jeanshemd, weiße Turnschuhe und eine schwarze Jacke.
Das ist Anna Maria. Anna trägt Jeans und Turnschuhe.
* * *
Ein Wagen der Carabinieri holt mich ab. Mein Vater und meine Mutter begleiten mich zum Gericht. Ich steige ein. Blicke zurück zu dem Haus, in dem wir wohnen. Betrachte das glatte Gesicht meiner Mutter. Und das zerfurchte, von der Sonne ausgedörrte Gesicht meines Vaters. Ich nehme ihre Hände, und wir fahren.
Heute beginnt der Prozess.
Das Dorf
»Die hat dafür gesorgt, dass man sie verhaftet hat.«
»Diese Nutte, fatica de notte, vrigogna de juarnu. «
»Ja, genau, wer es nachts treibt, trägt am Tag die Schande. Die hat sie ins Gefängnis gebracht. Obwohl sie zu Hause Frauen und Kinder haben.«
»Diese Hure.«
»Und jetzt ist der Prozess. Jetzt müssen sie vor den Richter.«
»Diese Hure.«
Das Gericht
I n meinem Kopf dreht sich alles. Ich kannte das Gerichtsgebäude von Palmi nicht. Es sieht aus wie ein Bunker. Oder vielleicht wie ein Bienenstock, ja genau, wie ein gepanzerter Bienenstock, der von Tausenden Bienen umschwirrt wird, die hinein- und herauswollen. Männer in Anzug und Krawatte, Frauen im Kostüm und hochhackigen Schuhen. Ihre Absätze klappern durch die Eingangshalle und vermischen sich mit dem Summen des Bienenstocks. In meinem Kopf dreht sich alles. Ich verstehe nicht, was sie sagen, aber alle reden und laufen schnell. Das Portal vor mir ist riesig. Ich fühle mich so winzig klein.
Es ist der 4. Dezember 2002. Der Anfang meines neuen Lebens, wiederhole ich mir. Jetzt schreite ich durch dieses Portal, und alles wird neu. Von hier aus. In diesem Moment. Obwohl ich Angst habe.
Ich betrete den Bunker. Stumm schreite ich durch das Stimmengewirr.
Ich bin sechzehn Jahre alt. Ich schaue mich im Gerichtssaal um. Der Richter vor mir trägt eine schwarze Robe. Hier gibt es Schutzzellen aus Panzerglas für die Angeklagten. Sie sind leer. Aber sie sind real.
Die. Cucinotta, die Brüder Iannello, Cutrupi. Sie sitzen nicht in den Zellen, sondern auf Bänken.
Ich setze mich ebenfalls.
Der Prozess beginnt. Das verkürzte Verfahren.
Erst spricht der Staatsanwalt. Dann die Verteidigung. Ich höre zu und warte ab.
Die Verteidigung bestreitet, dass »die Beschuldigten« je
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