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Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)

Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)

Titel: Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Maria Scarfò
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sexuelle Kontakte mit mir gehabt hätten. Aber nicht nur das, sie bestreiten sogar das Offensichtliche, dass sie ganz harmlosen, freundschaftlichen Kontakt mit mir gehabt hätten. Wir sind ein Dorf mit zweitausend Einwohnern. Fünfzig Straßen, ein Lebensmittelgeschäft, eine Kirche und eine Bar, und die schwören doch wirklich, sie hätten mich kaum gekannt. Da es sich um ein verkürztes Verfahren handelt, werden ihre Aussagen von den Anwälten verlesen, sie sind schriftlich niedergelegt.
    Wie können sie es wagen?
    »Wir kennen sie kaum, und das auch nur, weil wir im gleichen Dorf leben«, heißt es da immer wieder.
    »Die lügen, Avvocatessa , die lügen«, sage ich leise zu meiner Anwältin.
    »Ganz ruhig, Anna. Mach dir keine Sorgen, es ist alles in Ordnung«, flüstert sie mir ins Ohr.
    »Aber die können doch nicht einfach behaupten, dass sie mich nicht kennen.« Ich will aufstehen, zu denen hingehen und sie verhören. Die sollen mir in die Augen sehen und dann sagen, sie kennen mich nicht.
    »Anna, die wissen nicht, was sie sagen sollen. Das ist eine verzweifelte Verteidigung, und du wirst sehen, dass das auch der Richter begreift. Das kann für uns nur von Vorteil sein, wenn es so unglaubwürdig ist, dass sie dich angeblich gar nicht kennen. Warte ab. Ganz ruhig. Alles läuft gut.« Die Avvocatessa hält mich mit einem Arm und dem beruhigenden Ton ihrer Stimme zurück.
    »Anna Maria Scarfò ist leicht zu haben.« Das sagt Michele Iannello. Und sein Bruder Domenico sagt das Gleiche.
    Ich reiße mich zusammen. Ich verkrampfe die Hände im Schoß und warte ab, wie Rosalba mir geraten hat. Aber das ist das letzte Mal, dass sie mich verhöhnen können. Ich mache da nicht mehr mit.
    Michele erklärt ganz ruhig, er wäre mir nur einmal kurz begegnet. Er sagt, ich wäre an seinen Wagen gekommen und hätte gesagt: »Mit mir erlebst du glückliche Tage.« Und dann hätte ich ihn noch zweimal auf dem Handy angerufen.
    Die Avvocatessa nimmt meine Hand und drückt sie ganz fest. Ich erwidere den Druck. Und warte.
    Jetzt ist Cucinotta dran. Sogar er erklärt, er sei mir nur einmal begegnet. Ein einziges Mal. Und aus welchem Grund? Einer seiner Freunde hätte ihn gefragt, ob er wirklich mit mir verlobt sei, deshalb hätte er mich auf der Straße angehalten, um eine Erklärung von mir zu verlangen, aber ich sei weggelaufen.
    »Das ist das einzige Mal, dass ich mit der Scarfò gesprochen habe. Ich hatte nie sexuellen Kontakt mit ihr.«
    Das ist doch lächerlich. Was reden die da? Was erzählen die da für Sachen?
    Die Verhandlung dauert mehrere Tage. Jedes Mal höre ich nicht mein Leben, nicht das, was mir widerfahren ist, sondern eine parallele Wahrheit. Geschichten aus einem Dorf, das es so nicht gibt.
    Nur Domenico Cutrupi bestreitet überraschenderweise, wie mir meine Anwältin erklärt, nicht, mich zu kennen. Im Gegensatz zu den anderen gibt er unsere Treffen zu, behauptet allerdings, sie hätten vor ungefähr einem Jahr geendet. Und er sei es gewesen, der damit aufgehört hätte. »Da es Gerüchte gegeben hatte, dass die Scarfò mit uns zusammen war, trafen wir uns nicht mehr mit ihr, um übles Gerede zu vermeiden.«
    Jeden Abend nach der Verhandlung bin ich schweigsam. Aber Rosalba und auch ihr Mann versichern mir, dass es gut läuft, dass es keine Rolle spielt, ob die die Wahrheit sagen. Nein, dass es sogar besser ist, weil vor Gericht nur Beweise zählen.
    Ich denke an die Bienen und den Bienenstock zurück, an den Bunker, an das Portal, an die Panzerglaszellen. Ich versuche, mir das Gesicht des Richters ins Gedächtnis zu rufen, aber es gelingt mir nicht. Im Gerichtssaal starre ich immer die an. Ich sehe nichts anderes. Ich sehe sie an. Hoffe, dass ihre Anwälte endlich die Wahrheit erzählen.
    * * *
    In den letzten Monaten habe oft ich meiner Anwältin Mut gemacht, aber jetzt habe ich Angst. Eine irrationale Angst, die Angst des Spielers vor dem sich drehenden Rouletterad, nur dass ich nicht gespielt habe, mich nicht dem Zufall anvertraut, nicht auf eine Nummer gesetzt habe. Ich habe mich meiner Vergangenheit gestellt. Von diesem Prozess hängt alles für mich ab, meine Gegenwart und meine Zukunft.
    Ich habe allen erzählt, was die mir angetan haben. Alle werden jetzt wissen, dass ich keine Jungfrau mehr bin. Ich erinnere mich an den Blick von Schwester Mimma und an die Worte dieser Nonne im Heim von Polistena, von der ich nur die Umrisse im Gegenlicht gesehen habe. Welcher Mann wird mich noch lieben können?

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