Sommer in Ephesos
dachte nicht mehr daran, dass ich den Laserstrahl benutzen konnte, ich irrte mit dem Blick durch den Tachymeter über die mattgelbe Wand, aber da war niemand, ein Schwindel überkam mich, wie war das möglich, ein Taumel, dass ich Jan, der so groß in der Nische stand, die ich mir heranzog, dass ich ihn nicht mehr wiederfinden konnte. Ich hab dich verloren, rief ich, ehrlich, und sah Jan entsetzt an. Nimm den Laserstrahl, sagte er, und der rote Punkt fixierte ihn mir, aber bis zum Abend zitterte etwas nach. Wie war es möglich, dass man mit dem Blick des Vermessers jemanden verlieren konnte.
Die Wände, der Boden, die Nischen, der Verputz und was zwischen den Steinen war, die Fresken, die Blumen und Vögel, ein Rot war an den Wänden, ein mattes Gelb. Brandschichten, Versturzwände, Schwellen Bodenkerben, erzählten mir die Zeit und den Raum. Ein kleiner Vogel mit langen spitzen Schwanzfedern, wie rötlich war sein Gefieder, und das spitze Häubchen auf seinem Kopf ragte verwegen nach hinten, der schlüpfte durch die Löcher in der Mühlenwand und guckte mit schiefgelegtem Köpfchen auf unser Tun. Den Punkt fixieren, den Punkt ins Kreuz einpassen, abdrücken, die Mitte eines Daumens, der Kreuzmittelpunkt, noch heute erinnert sich etwas in mir an das Hanghaus 2, Wohneinheit 7, an das Schrillen der Zikaden, den Flug eines Vogels und ein helles Glück.
Bist du, denke ich, ohne dass ich es will, ich stehe in der Straßenbahn, ich habe zu viel getrunken am Vorabend und statt an meinem Projekt zu arbeiten, habe ich mich auf die Seite des Österreichischen Archäologischen Instituts verirrt, bist du, denke ich, es regnet und die Kleidung der Fahrgäste dampft, bleiche, blasse Blumen mit violetten Blättern, die asphodelischen Felder, bist du jetzt dort? Hast du, aber das hast du nicht, ein gleichgültiges Leben geführt, das hast du nicht, und plötzlich ist mein Gesicht nass und ich muss aussteigen, weil mich ein Schluchzen schüttelt, ohne dass ich es will.
Hades, höre ich die Stimme meines Vaters, er streicht über das Bild eines bärtigen Mannes. Hades hat viele Namen, so viele Namen, wie es Ängste gibt. Adámastos, sagt mein Vater, der Ungebändigte, Ameílichos, der Raue, Pelórios, der Ungeheure, der Furchtbare, Stygerós, der Abscheuliche, Aídelos, der Unsichtbare, Apótropos, der Abgewandte, Mélas, der Schwarze, Hénnichos, der Nächtliche, Phónios, der Mörderische. Etwas geht über das Gesicht meines Vaters, eine Abwesenheit, eine Konzentration, er lächelt, als er sieht, dass ich mir die Namen wiederhole.
Stygerós, sage ich, der Abscheuliche.
Er ist ein strenger, unerbittlicher Gott, sagt der Vater. Das muss er sein, er ist der Herrscher in einem schaurigen, öden Reich, aus dem keiner je zurückgekommen ist.
Keiner?, frage ich.
Keiner, sagt er.
Wieso?, frage ich. Wenn es einen Weg hinein gibt, dann muss es auch einen Weg heraus geben, oder nicht? Charon, sage ich, muss ja wieder zurückfahren, vom Totenufer zum Ufer, wo die Lebenden warten, also die Lebenden, du weißt schon, die, die gerade aus dem Reich der Lebenden kommen. Wenn das Boot leer ist, dann könnte er ja jemanden mitnehmen, ich, sage ich, ich wüsste schon, was ich täte.
Was tätest du?, fragt mein Vater.
Ich nähme, sage ich, mehr als eine Münze mit und damit würde ich ihn dann bestechen. Dann würde ich zurückkommen und so könnte ich das immer machen. Wenn ich hier sein wollte, könnte ich hier sein, und wenn ich dort sein wollte, würde ich dort sein, du musst nur immer schauen, dass du genug Münzen dabei hast. Glaubst du nicht, dass das so gehen könnte?
Nein, sagt mein Vater und sieht düster aus.
Warum nicht?
Weil das Leben nur in eine Richtung geht und der Tod ist endgültig. Du kannst das Leben nicht zurückdrehen, nicht um eine einzige Minute.
Ich versuche mir auszumalen, wie man es anstellen sollte, das Leben zurückzudrehen. Wenn wir einfach dasselbe tun wie gestern, denke ich, wenn wir dasselbe tun wie vor einer Minute, genau dasselbe, will ich sagen, aber ich weiß, dass es nicht so einfach sein kann. Mein Vater beobachtet mich, vielleicht kann er meine Gedanken lesen, das ist nicht schlimm, sagt er schließlich, wäre es nicht schrecklich langweilig, wenn wir immer das wiederholen müssten, was schon da war?
Aber, sage ich, wenn es nicht schlimm ist, wieso will dann niemand sterben, das will doch niemand, oder? Wieso ist Hades dann der Abscheuliche, der, ich versuche mich zu erinnern, der Mörderische, der
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