Sommer in Maine: Roman (German Edition)
und so etwas sagte wie: »Jetzt reicht’s. Gibt mal her!« Aber das war nicht seine Art. Er lachte nur und sagte: »Sieht aus, als hätte ich mir eine Tagträumerin als Kopilotin ausgesucht. Na, dann müssen wir eben unserer Nase folgen.«
In diesem Augenblick sah Alice die kleine Gruppe von Männern und Frauen, die in Malerkitteln vor ihren Staffeleien auf einem Hügel saßen.
»Es gibt hier eine Künstlerkolonie«, sagte Daniel. »Ned hat erzählt, dass die Hütten der Hummerfischer eine nach der anderen von Künstlern übernommen werden. Ich dachte, das würde dir gefallen. Die bieten Sommerkurse an. Vielleicht ist was für dich dabei.«
Alice nickte nur, aber sie war plötzlich angespannt. Sie wehrte sich gegen düstere Gedanken, spürte aber schon, wie ihre Stimmung umschlug. Sie starrte aus dem Fenster.
Zu ihrer Rechten stand ein schlichtes Holzhaus mit einem Schild: RUBYS GEMISCHTWAREN. Zur Linken sah sie ein kleines grünes Gebäude, das man für ein Wohnhaus hätte halten können, hätte das Holzschild über der Veranda es nicht als Apotheke ausgewiesen.
Briarwood Road war nicht ausgeschildert. Ned hatte gesagt, sie sollten der Straße entlang der Küste folgen, bis sie nach etwa drei Kilometern auf eine Gabelung stießen. Da sollten sie links auf eine unbefestigte Straße einbiegen. Dann ginge es geradeaus bis ans Meer.
»Er hat gesagt, es sieht aus, als würde man direkt in den Wald fahren«, sagte Daniel.
Alice stöhnte und bereitete sich geistig auf ein undurchdringliches Dickicht vor, das Ned einfach als sein Eigentum erklärt hatte.
Sie mussten mehrfach wenden, weil sie den Eingang zweimal verpassten. Beim dritten Versuch bogen sie an einer Stelle ab, die man kaum als Weggabelung erkennen konnte. Alice war sprachlos. Was da vor ihnen lag, war wie aus einem Märchenbuch: Ein sandiger Weg schlängelte sich durch einen Tunnel aus üppigen Pinien, und als sie an seinem Ende ankamen, glitzerte vor ihnen das Meer in der Sonne. Es hob sich dunkelblau gegen einen kleinen Sandstrand ab, der die felsige Küste unterbrach.
»Willkommen zuhause«, sagte Daniel.
»Das gehört uns?«, fragte Alice.
»Tja, ein Hektar davon«, sagte er. »Und zwar der allerbeste – das ganze Uferstück.«
Alice war begeistert. Keiner ihrer Freunde und Bekannten zuhause hatte ein Haus am Strand. Sie stellte sich schon vor, was ihre beste Freundin Rita für ein Gesicht machte würde, wenn die das Grundstück sah.
Alice drückte Daniel einen Kuss auf den Mund.
Er grinste: »Es gefällt dir also.«
»Ich weiß schon, welche Vorhänge wir nehmen.«
»Wunderbar. Dann ist das Wichtigste ja erledigt. Jetzt brauchen wir nur noch ein Haus, in das wir sie hängen können.«
Auf dem Rückweg hielt er an der Weggabelung an, ritzte ein Kleeblatt und die Buchstaben A.H. in die weiche Borke einer Birke und sagte: »Jetzt verpassen wir die Abzweigung nie wieder.«
»A.H.?«, fragte sie. »Was soll das denn sein?«
Wie ein Lehrer zeigte er langsam auf einen Buchstaben nach dem anderen: »Alices. Haus.«
Daniel und seine Brüder bauten das Sommerhaus eigenhändig, sie setzten jeden Balken selbst. Die fünf Räume im Erdgeschoss waren durchgehend miteinander verbunden: Durch die enge, steinerne Küche betrat man das Wohnzimmer. Hier standen das schwarze Klavier von J. & C. Fischer aus New York, außerdem ein gusseiserner Holzofen in der Ecke und ein Esstisch, an dem problemlos zehn Personen Platz hatten, obwohl sie sich oft zu sechzehnt daran drängten. Von diesem Raum kam man in ein kleines Schlafzimmer, das die richtige Größe für ein Paar hatte und an ein sonnengelbes Bad angeschlossen war. Das Bad führte in ein weiteres Schlafzimmer, so groß wie alle anderen Räume zusammen, in dem zwei Einzelbetten und vier Stockbetten standen. Über allem lag der Dachboden, der einzige Ort im Haus, in dem man ungestört war. An die Küchentür war ein Windfang angebaut, und vom Wohnzimmer ging eine Veranda ab. Außerdem gab es eine Außendusche voller Spinnweben, von der aus man beim Haare waschen die Sterne beobachten konnte. Das war alles. Ihr kleines Stück vom Paradies. Hier verbrachten die Kellehers fortan jeden Sommer.
In den fünfziger Jahren wurden immer mehr Grundstücke um Ogunquit und Cape Neddick von reichen Auswärtigen gekauft. Aber an der Briarwood Road baute niemand, und sie empfanden das Waldstück mit den herrlichen Bäumen, die den Weg zum Strandhaus säumten, als ihr Eigentum.
Jeden Juni verließen sie Massachusetts
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