Sommer in Maine: Roman (German Edition)
sie an Schlagersänger aus den Fünfzigern erinnerte. Der Beruf, den er gewählt hatte, gehörte vergangenen Zeiten an, und seine besondere Art der rücksichtsvollen Anteilnahme hatte sie einem jungen Menschen von heute gar nicht mehr zugetraut.
Wenn sie ihn beim Gebet für ein Gemeindemitglied beobachtete, spürte Alice seine tiefe Hingabe. Heutzutage nahmen sich die meisten Priester keine Zeit für Hausbesuche. Wenn sie fertig waren, lud Pfarrer Donnelly Alice zum Mittagessen ein. Das machte er, das wusste sie genau, mit keiner der anderen Damen der Legion. Er hatte so viel für sie getan. Ab und zu half er ihr sogar im Haus, wechselte die Glühbirne auf der Veranda oder beseitigte nach einem Sturm abgefallene Äste. Vielleicht war diese besondere Aufmerksamkeit eine Folge ihrer kleinen Abmachung, aber was kümmerte sie das.
Pfarrer Donnelly und die sieben Mitglieder der Legion Mariens (von denen tatsächlich fünf Mary hießen) waren zu dieser Jahreszeit die einzigen Personen, mit denen Alice regelmäßig verkehrte. Sie war der einsame Sommerzugang der Legion, die Austauschschülerin, wie sie sich scherzhaft nannte. Die Einheimischen waren Fremden gegenüber misstrauisch. Aber nachdem St. Agnes zwei Jahre zuvor von der Erzdiözese geschlossen worden war, hatten sie sich einverstanden erklärt, Alice für die Sommermonate aufzunehmen.
St. Agnes war ihre Gemeinde in Canton gewesen. Hier waren ihre Kinder getauft und ihr Mann Daniel beerdigt worden. Hier war sie sechs Jahrzehnte lang jeden Tag zur Messe gegangen. Hier hatte sie, als die Kinder noch klein waren, die Sonntagsschule und später die hiesige Legion Mariens geleitet. Gemeinsam mit Abigail Curley, einer jungen Mutter von vier Kindern, die eine fast durchsichtige Haut hatte und eine sanfte, kindliche Stimme, hatte sie die Kampagne zur Rettung der Kirche ins Leben gerufen. Sie hatten fünfhundert Unterschriften gesammelt und mehrere Dutzend Briefe geschrieben. Sogar an den Kardinal.
Bei der letzten Messe hatte Alice leise in ihr Taschentuch geweint. Schließungen wie diese waren an der Tagesordnung, man hörte davon überall. Aber dass es sie treffen könnte, damit hatten sie nicht gerechnet. Abigail Curley und andere Gemeindemitglieder hatten sich geweigert, das Gebäude zu verlassen. Zweieinhalb Jahre später war die Kirche immer noch Tag und Nacht besetzt. Sie blieben, obwohl der Priester längst gegangen war, obwohl es weder Licht noch Heizung gab. Alice versuchte es mit einer Gemeinde in Milton, aber es verband sie nichts mit dem Ort und seinen Menschen. Ihre Sommergemeinde war nun ihre wichtigste Verbindung zum Glauben und zu ihrer Vergangenheit. Die Mitglieder der Legion schienen das zu wissen.
Die Gruppe bestand zum größten Teil aus Witwen, die sich gehen ließen. Sie trugen Jogginganzüge mit klobigen, weißen Turnschuhen und ihre Frisuren waren durchweg katastrophal. Alice war die einzige, die ihre Figur gehalten hatte. Nur die verflixten Falten deuteten auf die erschreckende Tatsache hin, dass sie dreiundachtzig Jahre alt war. Wie die anderen war auch sie allein. Vielleicht war ihnen die Morgenandacht deshalb so wichtig, weil sie Zeugen dafür brauchten, dass sie noch nicht gestorben waren. Sonst könnte es passieren, dass eine von ihnen am Küchentisch einen Hirnschlag erlitt und es keiner bemerkte.
Ihr Mann Daniel hatte das Grundstück kurz nach Kriegsende 1945 in einer dummen Wette mit seinem ehemaligen Schiffskameraden Ned Barell gewonnen. Ned war ein Trinker, selbst nach den Maßstäben der Marinesoldaten. Er kam aus einem Fischerdorf in Maine, verbrachte nun aber seine Zeit damit, in den edelsten Bars und Casinos Bostons seinen Lohn durchzubringen. Bei irgendeinem Basketballspiel wettete er mit Daniel um fünfzig Dollar. Alice war empört. Sie waren im zweiten Ehejahr, und sie war mit Kathleen schwanger. Aber Daniel beteuerte, dass es eine sichere Sache sei und er die Wette sonst auch nie eingegangen wäre. Dann gewann er.
Aber Ned hatte das Geld nicht.
»Was für eine Überraschung«, sagte Alice, als Daniel es ihr abends erzählte.
Daniel grinste sie nur groß an: »Aber du errätst nie, was er mir stattdessen gegeben hat.«
»Ein Auto?«, schlug Alice mit sarkastischem Unterton vor. Ihr zwölf Jahre alter Ford Coupé soff regelmäßig ab. Mittlerweile hatten sie sich an die Kraftstoffrationierung gewöhnt und gingen sowieso zu Fuß oder nahmen die Straßenbahn. Aber jetzt war der Krieg vorbei, und es stand ihnen ein harter
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