Sommer in Maine: Roman (German Edition)
sechstbesten Abschluss. Er lernte Ann Marie kennen, die am Schwestercollege Saint Mary studierte. Die beiden heirateten in dem Sommer, in dem sie zweiundzwanzig wurden. Sie führten eine gute Ehe und hatten drei zauberhafte Kinder: Fiona, Patty und den entzückenden Daniel Junior, Alices Liebling. Pat war an der Börse, und Ann Marie kümmerte sich um den Haushalt. Sie wohnten vor den Toren Bostons in einem riesigen Haus in Newton mit Swimmingpool und der passenden dunkelblauen Mercedeslimousine in der Garage.
Alices Töchter nannten sie Familie Makellos. Und verglichen mit ihnen waren sie das ja auch. Alice sagte oft, dass Ann Marie ihr eine bessere Tochter sei, als eine von ihnen es je sein könnte. Ihre Schwiegertochter nahm sie auf Wochenendausflüge mit, und sie gingen gemeinsam zu einem teuren Friseur in der Stadt. Sie trafen sich regelmäßig zum Mittagessen und tauschten Rezepte, dicke Bücher und Modezeitschriften aus. Alices Töchter hingegen schafften es meist nicht einmal, sie wöchentlich anzurufen und einigermaßen auf dem Laufenden zu halten. Clare machte das gelegentlich durch hübsche Geschenke wieder gut, aber Kathleen gab sich überhaupt keine Mühe.
Clare war das mittlere Kind und zwei Jahre älter als Patrick. Als die Kinder noch klein waren, hatte Alice sich um sie am meisten gesorgt. Ihre Mähne war rot wie Herbstlaub, sie hatte ein unvorteilhaft rundes Gesicht und jede Menge Sommersprossen. (Die hatte sie von Daniel.) Sie war jungenhaft und hatte mehr Köpfchen, als gut für sie war. Ihren Highschool-Abschluss hatte Clare mit nonnenhaftem Ernst verfolgt: Sie hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen, sich am offenen Fenster in die Schulbücher vertieft und Alice Zigaretten stibitzt, wenn sie sich unbeobachtet fühlte. Sie hatte nie mehr als einen oder zwei Freunde gehabt, und auch diese Freundschaften hatten nie länger als ein paar Monate gehalten. Daniel hatte die Idee für nicht gerade mütterlich gehalten, aber Alice befürchtete, dass irgendetwas an Clares Verhalten die Leute abstieß.
Nach ihrem Abschluss vom Boston College nahm Clare einen Job in der IT-Branche an. Bis heute wusste Alice nicht genau, was sie da gemacht hatte. Clare hatte sich ganz ihrer Arbeit verschrieben und, soweit Alice wusste, nie einen Freund gehabt. Mit Ende dreißig traf sie Joe, natürlich über die Arbeit. Seine Familie besaß ein Devotionaliengeschäft im Süden Bostons. Sie verkauften Bibeln, Gebetsbücher, Kreuze und zur Erstkommunion Nachbildungen des Prager Jesulein. Als Joes Vater sich zur Ruhe setzte, ging das Geschäft auf Joe über. Seitdem verkaufte Clare die Waren irgendwie übers Internet.
Sie verdienten gut und wohnten in einem alten viktorianischen Bau im Bostoner Jamaica Plain, einem Bezirk, den sie für seine kulturelle Vielfalt und die öffentlichen Parks zu lieben vorgaben. ( Klingt wie eine nette Beschreibung für ein Armenviertel , dachte Alice, als sie das hörte. Dabei wusste sie, dass das Haus nicht billig gewesen war.) Die Nachbarn auf beiden Seiten waren Schwarze.
Alice konnte sich nicht daran erinnern, einen Schwarzen gesehen zu haben, bevor sie mit neunzehn einen Job in der Bostoner Innenstadt bekam. Heute konnte sie die Straße im Vorort Dorchester, auf der sie aufgewachsen war, nicht entlangfahren ohne die Autotüren zu verriegeln, die Luft anzuhalten und innerlich zehn Ave Maria zu sprechen. Wo ihre Brüder früher vor dem Abendessen Basketball gespielt hatten, standen jetzt Gangs und Prostituierte. Aber das durfte man ja nicht sagen. Wenn man es doch tat, wurde man von Clare und Joe der Bigotterie bezichtigt.
Die beiden waren wie füreinander geschaffen. Beide waren ganz versessen auf dieses neumodische liberale Tamtam, und sie waren so verliebt, dass Joe Clares höchstens als unscheinbar zu bezeichnendes Äußeres gar nicht aufzufallen schien und ihr seine eigentlich peinliche Körpergröße offenbar ganz egal war. Ihr Sohn Ryan war siebzehn und machte seinen Schulabschluss an der Boston Arts Academy. Er war ein talentierter Sänger und würde noch groß rauskommen. Manchmal war er ganz schön frech, aber so hatte man ihn eben erzogen. Alice hatte ihnen ja von einem Einzelkind abgeraten. Als Ryan noch klein war, wollte er immer, dass Alice für ihn Klavier spielte. Er sang dann dazu Tomorrow aus dem Musical Annie und erreichte die Höhen mindestens so gut wie die Mädchen am Broadway. Alice und Daniel hatten im Lauf der Jahre so viele Schultheaterstücke besucht, dass Daniel
Weitere Kostenlose Bücher