Sommer mit Nebenwirkungen
nicht …«, stammelte er.
Sophie holte aus und haute Paul Grotemeyer mit der flachen Hand ins Gesicht, so heftig, dass er ins Taumeln geriet. Ihre Hand brannte. Einen kurzen Moment stand er leicht gekrümmt vor ihr, beide Hände an der Backe, die flammend rot aus dem Gesicht stach. Dann richtete er sich auf, blickte die kreidebleiche Sophie groß an und sagte überrascht: »Du bist Doodle!«
»Woher weißt du das?«, fragte sie erschrocken und vergaß darüber sogar ihre brennende Hand.
»Alle Kandidaten haben dieses Posting gekriegt: ICH WILL ENDLICH EIN BABY!!!, abgeschickt von der Internet-Adresse eurer Firma – ›sk@c&o.com‹. Wir rätselten natürlich, was das sollte, wer ›Doodle‹ sein könnte und ob das irgendwie zu den Tests gehörte. Heinlein wurde ganz panisch, meinte, das müsse die allerneuste Methode sein, darauf sei er überhaupt nicht vorbereitet. Im Internet stünde nichts dazu. Wir ahnten ja nicht …« Wieder brach er ab. Seine Arme hingen nach unten. Vom selbstbewussten Kletterer war wenig geblieben.
Plötzlich wurde Sophie klar, was passiert sein musste. Die Plattform hieß nicht zufällig »Polonaise«. Nina hatte das auch erwähnt, allerdings erst nach dem dritten Tequila Sour. Der Witz dieser App war, dass die Postings sich wie ein Bandwurm durch das Adressbuch fraßen, erst durch das eigene, dann durch die Adressbücher der anderen, denen man geschrieben hatte. Wie ein Virus. So gelang es einem einzelnen Posting, sich weltweit zu verbreiten. Die Philosophie dahinter: Jeder hängt über ein paar Ecken mit jedem zusammen. Vermutlich erreichte ihr Babywunsch gerade einen Server in Singapur oder in Rio de Janeiro. Oder trudelte im E-Mail-Fach des amerikanischen Präsidenten ein.
Sophies Gesichtsfarbe wechselte von leichenblass zu flammend rot. Nun kannte die ganze Welt ihren Kinderwunsch. Nichts hatte sie in den letzten Monaten im Büro erzählt, weder von der Fruchtbarkeitsklinik noch von den Hormonpräparaten, geschweige denn von der Fehlgeburt. Paul Grotemeyer schaute sie direkt an. Was war das für ein Gesichtsausdruck? Mitleid! Pures Mitleid. Sophie hasste es, bemitleidet zu werden. Sie hielt ihre Gefühle gut in Schach, war stark genug, die Form zu wahren; da brauchte sie niemanden, der plötzlich ihr Händchen halten wollte. Mitleid war eine egoistische Form der Anteilnahme, ja, des Voyeurismus. Wer etwas Schweres durchmachte, der wurde ungefragt mit Mitleid überschüttet, völlig egal, ob er sich danach sehnte oder nicht. Doch Grotemeyer war nicht zu stoppen.
»Meine Schwester hat auch …«, begann er. Na klar, das kam dann unmittelbar nach der Mitleidswelle. Ich kenne da jemanden, der auch … Jeder kannte einen Tipp zu dem Thema: Die ist so und so schwanger geworden, das kannst du auch versuchen. Die Welt war voller Anekdoten ums Kinderkriegen. Paul Grotemeyer redete weiter eindringlich auf sie ein, aber Sophie hörte nicht zu. Irgendetwas von »in vitro«. Klingt wie der Name eine Edelitalieners, schoss ihr durch den Kopf.
Bloß weg hier, dachte sie und rannte schon los. Barfuß die Steintreppe hinunter zum orangen Plastiktisch, wo ihre Pumps noch standen und zum Glück die Handtasche noch hing. Sie schnappte sich beides, rannte weiter zum Ausgang – über alte Pommes frites, durch eine Pfütze mit klebriger Cola, egal, nur schnell raus. Die Tür nach draußen drückte sie so heftig auf, dass sie gegen die Außenwand knallte und ein Stück Putz abfiel. Die frische Luft tat gut, Sophie atmete tief ein. Erst als sie außer Sichtweite war, zog sie die Pumps wieder an. Sie würde sich eine Stunde Zeit lassen, bevor sie ins Assessment-Center zurückkehrte. Bis dahin würde dieser Paul Grotemeyer seine Sachen gepackt haben und verschwunden sein. So viel Anstand besaß er wohl, hoffte sie. Denn eines war sicher: Diesen Kerl wollte sie nie wiedersehen.
4
Eine Stunde später betrat Sophie wieder die C&O-Zentrale. Sie war noch einmal um den Block gegangen, um wieder zu sich zu kommen. Aber der Spaziergang machte nichts leichter. Schon oft war sie in ihrem Job beschimpft worden, auch auf die übelste Art und Weise. »Schlampe« und das Fo-Wort hörte sie mehrmals im Jahr. Einmal beschmierte eine abgewiesene Kandidatin ihr Auto mit rohen Eiern. Sophie fuhr daraufhin ganz gelassen in die Waschanlage. Ihr war klar, dass man damit rechnen musste, schließlich ging es bei ihrer Arbeit um sehr begehrte Posten. Sie entschied über Menschen, sie bestimmte ihr Schicksal. Senkte sie den
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