Sommer mit Nebenwirkungen
Daumen, löste das große Emotionen aus, manchmal auch blanken Hass. Es war für viele Kandidaten sehr kränkend zu erfahren, dass ihr Selbstbild mit der Leistung, die sie brachten, nicht übereinstimmte. Sophie war der Überbringer dieser schlechten Nachricht. Doch so etwas wie mit Paul Grotemeyer war ihr noch nie passiert. So persönlich. So verletzend. So grausam wahr.
Ja, sie wollte ein Baby. Nein, es klappte nicht. Sie war achtunddreißig Jahre alt.
Der Aufzug ließ auf sich warten. Wie sollte sie heute weitermachen? Die Gruppe war in guten Händen, eine Kollegin hatte kurzfristig übernommen. Sophie hatte mit ihr telefoniert, als sie ziellos umhergelaufen war. Grotemeyer habe seine Sachen geholt und sei ohne ein weiteres Wort aus dem Assessment-Center gerauscht, hieß es. Danach schaltete Sophie das Telefon aus. Ob der Kerl wirklich einen Artikel schreiben würde? Das roch nach großem Ärger, sie musste ihre Chefin informieren. Am besten gleich. Nachdenklich betrat sie den Fahrstuhl. Oben wurde sie schon erwartet.
»Sophie, los, schnell zur Chefin. Warum bist du nicht ans Handy gegangen? Sie fragt schon seit einer Stunde nach dir. Du weißt doch, wie sie ist.« Die Sekretärin schob sie förmlich zur Treppe, die zum Turm hinaufführte. Ihre Chefin residierte dort oben in einem Büro mit Panoramaaussicht.
»Ist ja gut, ich eile. Du musst mir keine Kabelbinder anlegen«, murrte Sophie und lief die Treppe hoch. Es pikste unter ihren Fußsohlen, am liebsten hätte sie sich erst einmal die Füße gewaschen, der Dreck von McDonald’s klebte noch an den Sohlen. Ihr Hosenanzug sah auch schlimm aus, er war voller Flecken von der Wand und vom Burger. Aber einen Gang in den Waschraum würde die Sekretärin nie zulassen, die noch wie ein Wachhund unten an der Treppe patrouillierte.
Diesen McDonald’s würde sie nie im Leben wieder betreten, schwor sich Sophie. Dann klopfte sie. Einmal tief durchatmen. Die Wutanfälle ihrer Chefin waren legendär, ihr Temperament wurde von Monat zu Monat heftiger. Eine dünnhäutige Frau, im wahrsten Sinne des Wortes. Sophie wünschte sich manchmal, die Chefin würde beim Essen etwas mehr zulangen, statt sich immer mit Salat zu begnügen, das Dressing separat. Die Frau zählte den ganzen Tag Kalorien. Die Figur schlank zu nennen würde ihr zu viel Gewicht verleihen. Sehnige Beine und spitze Knie schauten aus kurzen Kostümröcken. Trug die Chefin ärmelfreie Oberteile, sah man ihre Streichholz-Ärmchen. Die ausgezehrten Finger trugen schwer an einem mehrkarätigen Diamanten. Ihr Gesicht wirkte hart. Und auch der Psyche fehlte das Polster, alles traf sie direkt und heftig, deshalb war sie so reizbar. Sophie erkannte ihre Fähigkeiten an, die Chefin hatte dieses Assessment-Center aufgebaut, sich in einer männerdominierten Szene durchgesetzt. Aber der Preis war, dass sie ihren Angestellten das Leben zur Hölle machen konnte.
»Sophie? Kommen Sie rein«, erklang es im scharfen Ton durch die Tür. Die Chefin saß hinter ihrem Schreibtisch, sie war wie immer perfekt gestylt. »Setzen Sie sich«, sagte sie zu Sophie, ohne hochzuschauen. Klar, erst einmal den anderen warten lassen. Ihm keine Beachtung schenken. Eine wichtige Methode im Assessment-Center, damit Kandidaten unsicher werden. Bei Sophie rief diese Strategie ihrer Chefin genau die gegenteilige Reaktion hervor: Sie wurde ganz ruhig. Mag da kommen, was kommt, sagte sie sich. Ein Zen-Mönch hätte nicht fatalistischer sein können.
»Doodle«, sagte ihre Chefin plötzlich überraschend. »Darf ich Sie so nennen, Sophie? Sie sind doch Doodle, nicht wahr? Ein Spitzname, vermutlich wegen Ihrer eigenwilligen Haare.«
Klar, das Posting war auch an sie gegangen. An die ganze Firma. Und hier wusste natürlich jeder, wer hinter der E-Mail-Adresse ›sk@c&o.com‹ stand.
»Anfangs konnte und wollte ich die Nachricht schwer mit Ihnen zusammenbringen. Ich meine, wer schickt denn schon solche Intimitäten wahllos in der Welt herum: ICH WILL EIN BABY!!! Aber Ihre Generation ist da wohl anders als wir, dieser ganze Facebook-Kram, der wird mir immer fremd bleiben. Gut, sei’s drum. Einige Ihrer Kandidaten haben mich dann allerdings informiert, was heute bei Ihnen los war. Bis hin zur Szene im Schnellrestaurant, von der ich auch schon erfahren habe. Nein, …« Sie unterbrach sich selbst, um eine Schublade aufzuziehen und ein Pfefferminzbonbon herauszuholen. Sie lutschte die Dinger den ganzen Tag, um mit dem ständigen Hunger klarzukommen.
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