Sommer mit Nebenwirkungen
Manchmal hing das Leben eines Kletterers an einem einzigen Finger. Sie vermisste diese Zeit.
»Wieso interessiert Sie das Freeclimbing so?«, fragte er. Sophie trank einen Schluck ihrer Cola light.
»Ich klettere selbst«, antwortete sie. Paul Grotemeyer biss gerade in seinen Big Mac und kaute ungerührt weiter. Keine Reaktion, keine Nachfrage. Er grinste nur so komisch überheblich. »Es stimmt. Es ist eine Weile her, aber ich bin früher oft …«, begann Sophie und ärgerte sich sofort, weil sie so defensiv klang. Warum bettelte sie um seine Aufmerksamkeit?
»Ja, ja«, unterbrach Paul Grotemeyer sie unwirsch.
»Sie glauben mir nicht?«, fragte Sophie erstaunt.
Paul Grotemeyer legte endlich seinen Big Mac ab und sah sie abschätzig an.
»Irgendwer hat mir erzählt, in der letzten Brigitte stünde ein Dossier über Climbing. Zwölf Seiten nur über Klettern. Scheint im Moment der letzte Schrei unter Frauen zu sein. Besonders bouldern, das gefahrlose Kraxeln in ein, zwei Meter Höhe. Süß! Wo klettern Sie, in der Kletterhalle hier um die Ecke?«
»Also erlauben Sie mal … ich habe mir sogar die Nase gebrochen …«, begann Sophie.
Grotemeyer lachte. »Beim Sprung aus zwei Meter Höhe? Sind Sie beim Mini-Mountain-Kletterkurs auf die Nase gefallen? Klar, wenn die Frauenzeitschriften damit anfangen, dann ist es in Berlin längst Mode. Man hat mir schon von den Boulderlounges in Mitte erzählt. Da soll es jetzt After-Work-Klettern und Ladies Nights geben. Und einen Kletter-Cocktail gratis. Was für ein stylischer Event!« Der letzte Satz klang regelrecht gehässig. Verachtung lag in seiner Stimme, »stylischer Event«, die Worte hatte er fast ausgespuckt. Schlagartig verschwand alles Kribbeln bei Sophie. Was für ein Blödmann!
Jetzt legte auch sie den Burger zurück auf das Tablett. »Sie glauben mir also nicht, dass ich wirklich klettern kann? Geben mir zu verstehen, ich sei eine Aufschneiderin? Eine, die einmal einen lächerlichen Indoor-Kletterparcours hoch- und wieder runtergestiegen ist. Und sich jetzt damit brüstet? Einen echten Berg habe ich noch nie gesehen?«
Paul Grotemeyer merkte nun, dass er zu weit gegangen war. Die Stimmung zwischen ihnen war komplett umgeschlagen, der kleine orange Tisch trennte nun Welten.
»Hören Sie, ich klettere schon sehr lange, seit zwei Jahrzehnten. Ich kenne die Szene, sie ist klein. Die Zahl der Freeclimbing-Frauen kann man an einer Hand abzählen, daran wird auch der momentane Hype nichts ändern. Klettern ist halt so ein Männerding – großes Risiko, Leben und Tod, einsame Entscheidungen treffen. Ein Leben am Abgrund. So sind wir halt. Natürlich, ab und zu bringt man mal eine Frau mit, der klettert man was vor, sie steht unten am Fels und schlägt die Hände vor den Mund vor Schreck, und am Ende des Abends … Sie können sich ja denken, wie es endet.«
»Sie meinen Klettergroupies?«
»Ja.« Er lachte, er versuchte, der Sache den Ernst zu nehmen. »Ich meine, das ist ein sexy Sport, und die Männer, die klettern, sehen meist ganz gut aus. Wettergegerbt und braun. Klar tauchen da schöne Frauen auf. Die Frauen, die ich wirklich in der Wand erlebt habe, sahen dagegen alle aus wie sowjetische Kugelstoßerinnen.«
Sophies Augen wurden sehr schmal, und ihr Grün wirkte plötzlich ziemlich giftig. Sie schob das Tablett von sich weg. Es war eine unmissverständliche Geste – dieser Gabeltest war beendet. Dann beugte sie sich leicht zu Paul Grotemeyer vor, eine lockige Haarsträhne löste sich und fiel nach vorn. »Und was«, sagte sie gefährlich leise, »meinen Sie, habe ich in den vergangenen Jahren gemacht, wenn ich sage, ich bin geklettert? War ich ein Betthupferl? Oder eine sowjetische Kugelstoßerin?«
Abwehrend hob Paul Grotemeyer seine Hände. »Ich wollte nicht … ich meine, so habe ich das nicht …« Er stotterte. Das war ihm sicher lange nicht mehr passiert. Eigentlich hätte Sophie jetzt aufstehen und gehen können. Doch das war ihr nicht genug. Sie wollte diesen arroganten Kerl am Boden sehen. Den Job würde er nicht bekommen, das stand fest. Aber vorher würde sie ihm noch eine Lektion erteilen.
Sie zog sich in aller Seelenruhe erst den einen, dann den anderen Pumps aus und stellte sie auf den Tisch. Danach wischte sie sich die Fußsohlen ab, sie waren trocken, genau richtig. Dann griff sie nach ihrer Coke light und merkte gleich, wie Paul Grotemeyer zusammenzuckte – wahrscheinlich war er schon mehrmals in seinem Leben mit dem klebrigen Zeug
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