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Sommer mit Nebenwirkungen

Sommer mit Nebenwirkungen

Titel: Sommer mit Nebenwirkungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Leinemann
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sich. Er rechnete mit ihr ab, ausgerechnet in dem Moment, als sie in der Wand hing. Das war total unsportlich. Hätte er damit nicht zumindest warten können, bis sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte?
    »Ich würde sagen, im Moment sind Sie der Dreckskerl – Sie wissen doch, dass man solche Gespräche nicht führt, wenn einer klettert. Außerdem: Sie haben mich belogen, nicht ich Sie. Ich bin eine Assessment-Psychologin, jeder, der unsere Räume betritt, weiß, was ihn erwartet«, rief Sophie zu ihm hinunter.
    Der Vorwurf, dass er sich gerade falsch verhielt, schien ihn zu treffen. Sie war doch die Böse, das musste er jetzt unbedingt klarstellen. »Dieses Essen hier, das ist doch reine Show. Sie waren nett eben, nein, mehr noch, Sie wirkten ehrlich. Aber dann, als Sie diese Wand hochkletterten, wurde mir klar: Sie sind genauso kalt wie die anderen. Was mit dem Heinlein eben passiert ist, war kein Zufall – das hat System. Sie spionieren Menschen für die Arbeitgeber aus, legen Dossiers über sie an …«
    »Das ist doch Unsinn. Wir sind doch nicht die Stasi«, protestierte Sophie.
    »Natürlich, Sie arbeiten genau so wie ein Geheimdienst. Die Assessment-Idee stammte ursprünglich vom Militär, das habe ich recherchiert, von der deutschen Reichswehr; so wollte man prüfen, welche Männer als Offiziere für den Krieg tauglich sind. Frauen wie Sie rüsten die Konzerne auf – und trampeln dabei über alle Persönlichkeitsrechte eines Bewerbers hinweg.«
    »Das ist doch totaler Quatsch, Sie reden ja wie die Occupy-Spinner«, rief Sophie. »Ein moderner, selbstbewusster Mensch hält es ja wohl aus, mal ein, zwei Tage ein bisschen geprüft zu werden. Niemand ist gezwungen, an einem Assessment-Center teilzunehmen. Was ist los mit Ihnen, sind Sie mal durchgefallen? Haben wir Ihnen ein kleines berufliches Trauma verpasst – jemand anderes war besser als Sie?« Die Arme wurden ihr lang. Sie drehte sich von ihm weg, um weiter zur Empore zu klettern.
    »Durchgefallen? Nein! Ich bin kurz auf Sie reingefallen, Sophie Kaltenbrunn. Ich dachte, Sie wären anders. Ich habe mich gewundert, was so eine tolle Frau in so einem Drecksberuf macht. Aber Sie sind genauso herzlos wie die anderen in Ihrem Job: Daumen hoch, Daumen runter – so gehen Sie mit Menschen um. Und jetzt haben Sie mich rausgekickt. Aber ich schwöre, das hat seinen Preis. Frauen wie Sie werden im Alter hart und lieblos, bleiben kinderlos …«
    Mehr hörte Sophie nicht. Dort unten stand Paul Grotemeyer und redete sich um Kopf und Kragen. Bei Sophie blieb nur das letzte Wort hängen, »kinderlos«. Es war Zufall, dass Grotemeyer es ins Spiel gebracht hatte, aber er stieß damit endgültig ihre Tür zum Verdrängten auf. Ihr wurde übel.
    Der Geschmack war wieder da, dieser furchtbar pappige Geschmack, den sie nach der Narkose im Mund gehabt hatte. Die ganzen Monate hatte sie nicht daran gedacht. Die Ausschabung nach der Fehlgeburt verdrängte sie, so gut sie konnte, und es war ihr prima gelungen. Bis eben. Atme, Sophie, atme ruhig, nicht die Beherrschung verlieren, du hängst in sechs Metern Höhe, konzentriere dich, komm zu dir, ermahnte sie sich. Sie versuchte den Steingeruch einzuatmen, den sie so sehr liebte. Der Geruch, der ihr Sicherheit gab. Trotzdem fingen ihre Arme an zu zittern. Sie steckte schon viel zu lange an dieser Stelle fest, so lange auszuharren war gefährlich beim Klettern, man verlor die Kraft. Besonders, wenn man aus der Übung war wie sie. Ihr rechter, ausgestreckter Arm verkrampfte sich leicht. Sophie schloss die Augen, jetzt nur nicht ohnmächtig werden.
    Wie hatte er sie nur so treffen können, so zielgenau? Ironie der Geschichte, dachte Sophie noch, das C&O-Assessment-Center hat halt nur die besten Kandidaten in der Auswahl. Diejenigen, die schnell sind im Kopf. Paul Grotemeyer ist ein Dreckskerl, aber leider kein dummer. Mit geschlossenen Augen driftete sie weg, und als sie meinte, gleich zu fallen, packte sie ein starker Arm und zog sie schmerzhaft zur Empore rüber. Erst als sie mit der Hüfte gegen die Brüstung knallte, kehrte Leben in sie zurück, und sie ließ zu, dass sie sicheren Boden erreichte. Paul Grotemeyer stand vor ihr, die Hand im Schraubzwingengriff um ihren Arm geklammert. Er schaute sie wütend und erschrocken an. Irgendwie auch schuldbewusst. Er wusste, er war zu weit gegangen. Sophie stieß ihn weg. »Fass mich nie wieder an.«
    »Es tut mir leid, ich wusste nicht … War es die Kinderlosigkeit? Ich wollte

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