Sommer mit Nebenwirkungen
Das Bonbon im Mund, fuhr sie fort: »… informiert ist wohl das falsche Wort. Die Kandidaten haben sich bei mir beschwert, besonders die beiden Frauen. Diese Mail zeige ja wohl, dass Sie psychisch instabil seien. Und dann berichteten sie mir, dass der Tag sowieso nicht gut gelaufen sei. Man könnte den Vormittag auch als verkorkst bezeichnen. Sie haben tatsächlich den Stecker des Beamers gezogen?«
»Die anderen Kandidaten fielen regelrecht über den Heinlein her. Was sollte ich tun? Das war …«, Sophie suchte nach Worten, »… unmenschlich.«
Die Chefin bekam große, runde Augen. Sie konnte wunderbar die Augen aufreißen, das passte gut zu ihrem Puppengesicht. »Unmenschlich?«, wiederholte die Chefin ungläubig, um sogleich ihr berühmtes Lachen über eine volle Oktave anzustimmen. Niemals reagierte sie spontan, alles wirkte einstudiert und erfüllte seinen Zweck. Das Lachen war dafür da, Sophie bloßzustellen.
»Was soll daran unmenschlich sein, jemanden auf seine Fähigkeiten zu prüfen? Dieser Heinlein hat einfach nicht das Zeug fürs Topmanagement, der soll heim in seine Pfalz gehen und kleine Brötchen backen. Genau das ist unser Job, Sophie – in kürzester Zeit sicher herauszufinden, wer hier Qualitäten hat. Dafür sind wir da, das erwarten unsere Auftraggeber. Aber jetzt rede ich mit Ihnen schon wie mit einer Berufsanfängerin. Sie sind doch schon seit Jahren dabei, bislang schienen Sie nie solche …«, nun suchte die Chefin nach einem Wort, »… solche mildtätigen Anwandlungen zu haben.«
»Der Tag heute läuft komplett anders als sonst«, murmelte Sophie.
»Sie sind gefühlig. Dieser Kinderwunsch macht Sie schwach. Sie verlieren Ihr Auge für Menschen, Sophie. Das ist unser Werkzeug in dieser Branche. Früher wäre Ihnen das nicht passiert, dass Sie einen wie diesen Grotemeyer nicht enttarnt hätten. Einen Reporter!« Sie spuckte das letzte Wort förmlich aus.
Sophie schaute an der Chefin vorbei aus dem Fenster. Na super, das wusste sie also auch schon. Das war es dann wohl. Wie stolz war sie immer gewesen, es in Berlin geschafft zu haben – ein eigenes Büro, drei Fenster, ein toller Blick über die Hauptstadt. Sie, das Mädchen aus der Provinz. Berlin hatte es ihr leicht gemacht, es schien ihr wohlgesinnt. Schnell hatte sie hier Fuß gefasst, erst ein gelungenes Studium, dann ein gut bezahlter Job, ein Mann, der kaum auf das Geld achten musste. Essen gehen in Mitte, jeden Abend ein neues angesagtes Restaurant, das war ihr Leben. Doch jetzt rückte die Stadt von ihr ab, es lief nicht mehr so gut. Und plötzlich, beim Blick aus dem Hochhausfenster, erkannte sie, wie hässlich Berlin war.
Ein eintöniges graues Gewebe aus Häusern, das sich nach allen Seiten hin ausdehnte. Ohne Höhepunkte, ohne Schönheit, ohne Seele, ohne Charme.
Die Chefin schnippte ungeduldig mit den Fingern. »Hallo, Sophie, hören Sie mir überhaupt zu? Das ist eine Katastrophe! Über die Auflage dieser Zeitung muss ich Ihnen ja nichts erzählen. Unsere Anwälte sind schon dran, wir versuchen alles, um den Artikel zu verhindern. Wenn nicht, überhäufen wir sie mit Gegendarstellungen. Aber was ist nur in Sie gefahren, diese Wand hinaufzuklettern? Ich schätze Ihre Kreativität, aber das gehört doch nun wirklich nicht zu unseren Methoden. Das wirkt verrückt!«
Schmeiß mich doch raus, dachte Sophie plötzlich zornig. Das wäre die Krönung dieses beschissenen Tages. Ihr war alles egal. Die Chefin stand von ihrem Schreibtischstuhl auf und schob ihn mit ihrem knochigen Po nach hinten. Unglaublich, wie schmal sie war. Dass sie drei Kinder geboren hatte, sah man ihr nicht an. Aber gut, keines – die jüngste Tochter war inzwischen sieben, der älteste Sohn elf – hatte jemals den Weg durch das Becken geschafft, sie waren per Kaiserschnitt auf die Welt gekommen. »Medizinisches Risiko«, hatte sie behauptet. Doch in Wahrheit hatte sie die Geburtstermine so exakt in ihrem vollen Terminkalender unterbringen und sie mit dem Kindermädchen koordinieren können, das von Anfang an hauptsächlich für die Erziehung ihrer Kinder zuständig gewesen war. Ihre Mutter bekamen die drei kaum zu Gesicht, so wenig wie den Vater, einen Anwalt mit Kanzlei am Gendarmenmarkt.
Wieder drang die Stimme der Chefin zu ihr durch. »Ich will Sie nicht rausschmeißen«, sagte sie, als habe sie Sophies Gedanken gelesen. »Sie sind gut, Sie sind wichtig für das Büro. Den Spontanvortrag mit Twitter zu verbinden, für solche Einfälle schätze
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