Sommer mit Nebenwirkungen
bei dem Chaos nicht sprechen. Der Archivar mit seinem großen Bund war der Schlüsselhüter zur Freud-Höhle. Das hätte dem Doktor gefallen, dachte Sophie.
»Ich soll Sie grüßen und mich nach Mathilde erkundigen«, sagte Sophie.
Der Archivar griff zur Roth-Händle-Packung. »Es stört Sie doch nicht?«, fragte er, ohne auf eine Antwort zu warten. Dies war sein Reich. Allerdings waren die Zeiten, in denen man seinem Gegenüber eine Zigarette anbot, offensichtlich vorbei.
»Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte er immerhin, doch Sophie lehnte dankend ab. Dr. Gnoth nahm einen tiefen Lungenzug und betrachtete sie nachdenklich.
»Entschuldigen Sie, wenn ich jetzt privat werde – wie alt sind Sie?«, fragte der Archivar.
»Achtunddreißig.«
»Sind Sie kinderlos?«
Sophie fühlte sich unwohl, ihre rechte Hand machte sich selbstständig, fuhr durch ihr Haar. Sie nahm das Haargummi, das sie um den Arm getragen hatte, ab und band sich die Locken zu einem lockeren Knoten.
»Ja«, antwortete sie, ohne ihr Gegenüber anzuschauen.
Der Archivar sah sie jetzt wärmer an, nicht mehr so nachdenklich. »Dann liege ich wohl nicht falsch, wenn ich vermute, dass Sie einen unerfüllten Kinderwunsch haben. Deshalb der Name Mathilde.«
Sophie musste lächeln – unerfüllter Kinderwunsch. Wie umständlich das klang. Der Arzt in der Fertilisationsklinik hatte ähnlich geredet. Sollte das Freud-Archiv doch eine Art verdeckte Kinderwunschklinik sein? Sie nickte.
»Was wissen Sie über Mathilde Freud?«, fragte der Archivar nun.
»Nicht viel. Sie war wohl die älteste Tochter von Sigmund Freud, aber viel mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Ich habe zwar Psychologie studiert, aber mit Schwerpunkt Wirtschaftspsychologie. Das Unbewusste hat mich nie so sehr interessiert, sondern das messbare, durch Tests und Prüfungen gut einschätzbare menschliche Verhalten. Deshalb arbeite ich in einem Assessment-Center. Ich bin von der Couch und von Traumdeutung kilometerweit entfernt.«
»Trotzdem sitzen Sie hier«, sagte der Archivar freundlich.
»Ja, sonderbar.« Sophie geriet ins Stocken. »Überhaupt ist alles sonderbar in den letzten Stunden. Hätte ich nicht den Flugzeugstart verhindert …«
»Sie haben einen Flugzeugstart verhindert? Während sie neben Ihnen saß?«, fragte der Archivar neugierig.
»Ja, eigentlich passt das nicht zu mir. Das lag daran, dass ich mein Handy im Koffer vergessen hatte«, erzählte Sophie.
»Das kommt vermutlich selten vor, dass Sie nicht wissen, wo Ihr Handy ist?«
»Jetzt fangen Sie genauso an wie sie. Verdrängter Gegenwille und so. Aber es ist richtig, normalerweise trage ich mein Handy immer bei mir. Gestern war ich allerdings durcheinander. Meine Chefin verordnete mir Zwangsurlaub, weil sie eine Mail von mir zu lesen kriegte, in der ich offen über meinen Kinderwunsch schrieb. Zu offen. Jetzt hält sie mich nicht mehr für belastbar.«
»Sie kriegte eine Mail zu lesen, was heißt das?«, erkundigte sich der Archivar.
»Ach, ein blöder Zufall. Die Mail war natürlich nicht für die Chefin gedacht, sondern sollte an eine gute Freundin gehen. Dann habe ich sie versehentlich an mein komplettes Adressbuch geschickt, damit war auch meine Chefin kontaktiert. Moderner Irrsinn, verstehen Sie?«, sagte Sophie.
Der Archivar zog an seiner Zigarette und schaute sie prüfend an.
»Ihr Job ist Ihnen wichtig?«
»Er ist alles, was ich habe«, antwortete Sophie prompt. Dann kam ihr die Antwort aber doch zu heftig vor. »Nicht alles, ich habe einen wunderbaren Verlobten, gute Freunde, besonders Nina, ich …«
Der Archivar winkte ab. »Ich verstehe schon.« Er drückte die Zigarette im vollen Aschenbecher aus, die alten Kippen drohten über den Rand zu fallen. Dann griff er sich eine neue Zigarette, steckte sie an, zog einmal tief daran und begann zu erzählen.
»Mathilde Freud war die älteste der sechs Freud-Kinder. Eine hübsche junge Frau, obwohl Sigmund Freud sie gleich nach der Geburt als hässlich wie alle Babys bezeichnete. Aber so war sein Humor«, begann er.
Sigmund Freud hatte also Humor, dachte Sophie, so, so … Das konnte man kaum erahnen. Auf den wenigen Fotos, die es von ihm gab, schaute er meist ernst. Aber hatte er nicht auch ein Buch über den Witz und das Unbewusste geschrieben? Sie konzentrierte sich wieder auf Dr. Gnoth.
»Als Jugendliche musste Mathilde operiert werden, der Blinddarm sollte raus. Heute ist das eine Routineoperation. Aber damals bei Mathilde ging einiges schief, die
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