Sommer mit Nebenwirkungen
entfernt in London, Maresfield Gardens 20. Freuds letzte Adresse. Dort konnte man bis heute fast den gesamten Besitz der Familie Freud finden, nur die Feuerzeug-Sammlung blieb spurlos verschwunden. Womöglich hatte sie Freud 1938 unter Druck verkauft, um das Geld für die Ausreise zusammenzubekommen. Oder jemand hatte sie sich beim Umzug unter den Nagel gerissen und so von der Notlage des zweiundachtzigjährigen Wissenschaftlers profitiert. Die Nazis hatten gut verdient an seinem Leid. Was für ein trauriger Ort, dachte Sophie.
Sie schlenderte durch die Räume, durchschritt die kleine Tapetentür, von der aus man diskret das Behandlungszimmer hatte verlassen können, ohne im Wartezimmer von anderen Patienten gesehen zu werden. Es war damals zwar sehr wohl en vogue gewesen, zum Herrn Doktor zu gehen, aber erwischen ließ man sich dabei nicht gern. Deshalb die Diskretion.
Sophie schaute flüchtig auf die Papiere und Fotos in den Ausstellungsvitrinen, dann auf die Uhr. Seit einer Viertelstunde wartete sie jetzt. Worauf eigentlich? Auf einen Mann, von dem sie nicht wusste, wie er ihr überhaupt weiterhelfen sollte. Sie gehörte auf keine Couch, der Ausflug hierher war Quatsch. Nur ein erneuter Besuch in der Kinderwunsch-Klinik Berlin, einem freundlich wirkenden Bau mit langen hellen Fluren, Teestationen und Gratis-Spendern für Folsäure an allen Ecken, würde ihr weiterhelfen. Dies hier war ein Irrweg, es war ein blöder Zufall, dass sie die alte Dame getroffen hatte.
»Bei den wichtigen Dingen im Leben glauben wir Psychoanalytiker nicht an den Zufall«, hörte sie die Dame auf ihre freundliche, aber sehr bestimmte Art sagen.
»Quatsch«, antwortete Sophie und merkte erschrocken, dass sie das Wort laut ausgesprochen hatte. Jetzt führe ich schon Selbstgespräche! Zeit zu gehen.
Als sie sich umdrehte, stand hinter ihr ein kleiner, interessiert dreinblickender Mann.
»Sie haben nach mir verlangt?«, erkundigte er sich höflich. Er hatte eine Halbglatze, ein dunkler Haarkranz war ihm geblieben, und er trug einen Schnurrbart. Mitte fünfzig, schätzte Sophie. Bekleidet war der schlanke Mann unspektakulär mit Jeans, einem hellblauen Herrenhemd und einem dunkelblauen Pullunder. Er musste ein starker Raucher sein, das roch man sofort.
»Hallo, ich bin Sophie Kaltenbrunn. Im Flugzeug habe ich …«, begann Sophie, doch der Archivar winkte ab. »Ich weiß, ich weiß. Kommen Sie mit. Wir müssen eine Etage höher.«
Er ging mit schnellen Schritten voraus. Für ihn war dies offensichtlich kein Museum, wo man in getragenem Tempo durch die Räume schlich, sondern sein täglicher Arbeitsplatz, so vertraut wie die eigene Wohnung. Über das dunkle Treppenhaus ging es eine Etage höher. Der Archivar schüttelte einen Schlüssel aus einem großen Schlüsselbund und schloss auf. Neben modernen Sicherheitsschlüsseln hingen auch eine Menge alter Bartschlüssel daran.
Der Geruch überwältigte Sophie. In dem Archiv roch es nicht nach Büchern, sondern nach Tabak. Sie meinte sich zu erinnern, dass Freud ein starker Zigarrenraucher gewesen war. Doch diesem abgestandenen Rauch fehlte die Zigarrenwürze, hier hing scheußlicher kalter Zigarettenrauch in der Luft.
Der Archivar führte sie in sein Büro. Papierstapel, Bücherstapel, ein Computer, der offenbar schon ein Jahrzehnt lang hier stand. Eine beige Kaffeetasse mit tiefdunklen Flecken am Rand. Der Mann trank schwarz. Daneben stand ein Aschenbecher, randvoll mit Kippen. Eine offene Packung Roth-Händle lag auf dem Tisch, eine zweite geschlossen daneben. Kein Wunder, dass es hier so roch. »Lungentorpedos« nannte ihr Vater diese filterlosen Zigaretten mit dem würzigen Tabak, die er in den Siebzigerjahren selbst gequalmt hatte.
»Setzen Sie sich«, sagte der Archivar, und als sie sich fragend zu einem mit Papier beladenen Stuhl umwandte, räumte er den Stapel schnell auf einen anderen, der neben dem Schreibtisch emporragte. Er murmelte eine Entschuldigung, die Abgabe für eine wichtige Publikation stehe unmittelbar bevor. Sophie bezweifelte allerdings, dass es in ruhigeren Zeiten hier besser aussah.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte der Archivar freundlich, aber zurückhaltend. Als sei er auf der Hut. »I7ch weiß ja, wen Sie auf Ihrem Flug getroffen haben«, ergänzte er noch.
Ach, wie schön, wenn ich das auch wüsste, dachte Sophie, wagte aber nicht, nach dem Namen der Dame zu fragen. In diese heilige Höhle wurde nicht jeder vorgelassen. Von heiligen Hallen konnte man
Weitere Kostenlose Bücher