Sommer mit Nebenwirkungen
der breiten Treppe kam ihr eine kleine Gruppe ernster Japanerinnen entgegen, die sich leise unterhielten. Es war dunkel im Hausflur. Ein ziseliertes Geländer aus Metall zierte die Treppe. Oben links eine hohe braune Haustür mit Guckloch. Sophie drückte sie auf und stand in der Wohnung der Familie Freud. Genau genommen stand sie vor der Kasse.
»Acht Euro«, sagte die junge Frau hinter der Kasse. Sophie reichte ihr einen Zehneuroschein hinüber.
»Entschuldigen Sie«, sagte Sophie, nachdem sie das Wechselgeld zurückbekommen hatte, »ist Herr Dr. Gnoth heute im Haus? Ich würde ihn gerne sprechen.«
Die junge Frau schaute sie halb neugierig, halb misstrauisch an. »Haben Sie einen Termin?«, fragte sie.
»Nein, nur eine Empfehlung. Ich traf eine ältere Dame im Flugzeug auf dem Weg hierher, sie schien sich gut mit der Familie Freud und dem Museum auszukennen. Sie gab mir den Rat, Herrn Dr. Gnoth auf eine ganz konkrete Sache anzusprechen – ich glaube, sie wollte mir helfen.« Das klingt ja zu dämlich, dachte Sophie, noch während sie sprach. »Eine ganz konkrete Sache«, was sollte die Frau denn damit anfangen? Aber die schien gar nicht irritiert zu sein.
»Und wie lautet der Name der Frau aus dem Flugzeug?«, erkundigte sich die Kassiererin.
»Oh«, sagte Sophie ehrlich erstaunt, denn plötzlich wurde ihr klar, dass man sich im Flugzeug nicht vorgestellt hatte, »das weiß ich nicht. Aber ich kann die Dame beschreiben: Sie war wahrscheinlich um die siebzig Jahre, sehr gepflegt, kurze graue Haare, schlank. Sie kann gut zuhören – und man erzählt ihr plötzlich viel zu viel.«
»Von wo sind Sie abgeflogen?«, fragte die junge Frau mit einer ganz anderen Stimme. Aufregung schwang darin mit.
»Ich kam aus Berlin«, sagte Sophie.
»Etwa gestern?«, hakte die Kassiererin ehrfürchtig nach.
Sophie nickte. Da weiteten sich die Augen der Kassiererin. »Herr Dr. Gnoth ist im Haus, ich rufe ihn gleich an. Vielleicht nehmen Sie sich ein paar Minuten für die Ausstellung, er holt Sie dann ab.« Damit war Sophie entlassen. Offensichtlich standen ihre Chancen gut, bis ins Archiv vorzudringen. Wer die alte Dame aus dem Flugzeug wohl war?
Sophie betrat einen Eingangsflur, hier war eine zweite, separate Tür zu Dr. Freuds Praxis gewesen. Poliertes Parkett empfing die Patienten. Links eine Garderobe, ein Herrenhut hing hier, auch eine Schirmmütze und ein Spazierstock. Darunter stand eine lederne Reisetruhe. Alles wirkte kärglich. Überreste eines vergangenen Lebens. Dies war nicht nur ein Museum, wurde Sophie nach wenigen Räumen klar, dies war eine hastig leer geräumte Wohnung von Menschen, die außer Landes getrieben worden waren. Was die Familie Freud nach dem Einmarsch der Nazis hatte retten können, das stand nun in London; dort hatte Freud im Exil gelebt, bis er 1939 starb. Das Freud-Museum in Wien wirkte wie eine besenrein übergebene Wohnung, die Fotos und Faksimiles an den Wänden inszenierten eine Vergangenheit, die abrupt und unter brutalem Zwang zu Ende gegangen war. Hier wurde zwar dokumentiert: In diesen Räumen hat Sigmund Freud fast fünfzig Jahre praktiziert, dies ist der Geburtsort der Psychoanalyse. Doch das Leben der Familie Freud war weitergezogen, niemand aus der Familie war nach dem Krieg nach Wien zurückgekehrt. Man hatte versucht, dem toten Ort wieder Leben einzuhauchen. Es gab einen Medienraum mit alten Freud-Filmsequenzen, hier eine Vitrine mit kleinen Statuetten, dort einen Marmorkopf und wenige Möbel. Wirklich überzeugend war das nicht.
Es fehlte die Üppigkeit, die Freuds Praxisräume beherrscht hatte. Allein die berühmte Couch. Vom eigentlichen Möbel, auf das sich die Patienten für die Analyse legten, war unter den Kissenstapeln und Kelims nicht mehr viel zu sehen gewesen. Freud war ein leidenschaftlicher Sammler. Schon im Wartezimmer empfingen die Patienten antike Fundstücke, römische Tonvasen, ägyptische Gottheiten und ein hellenischer Läufer auf einem Wandteller. Sonderbar, dachte Sophie, die echte Praxis damals wirkte musealer als das leere Museum heute. Die Fotos von damals zeigten Vitrinen, gefüllt mit feinen Jade-Arbeiten aus China, eine Reliefplakette aus einem römischen Grab, archaische afrikanische Masken. Dazwischen Bilder von Landschaften, die die Familie selbst bereist hatte. Porträts geschätzter Kollegen hingen neben hoch symbolischen Kupferstichen. Dann gab es natürlich noch Bücher, viele Bücher. All diese Objekte standen inzwischen 1200 Kilometer
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