Sommer mit Nebenwirkungen
»Grotemeyer« gefallen, benahm sich Johann sonderbar. Dabei hatte sie aus ihrer Abneigung gegen den Mann keinen Hehl gemacht, nannte ihn »Aufschneider« und »Großmaul«. Überhaupt sei der Kerl ein »riesengroßes Arschloch«. Und dass sie ihm in aller Öffentlichkeit eine runtergehauen habe. Allerdings erzählte sie diesen Teil zögerlicher. Denn eine Ohrfeige zwischen Mann und Frau hatte etwas Intimes – das wurde ihr leider erst in dem Moment bewusst, in dem sie es Johann erzählt hatte. Kurz danach war Johann auf dem Stephansplatz stehen geblieben.
Durch ein mächtiges Portal, das Riesentor, traten sie ein. Im Dom stauten sich die Touristen, und es roch nach Weihrauch. Sophie schaute nach oben, bis zur verzierten Decke waren es bestimmt fast dreißig Meter. Im Mittelalter musste dieser Bau eine Vision gewesen sein. Doch Johann ließ ihr keine Zeit, um innezuhalten. Er zog sie weiter zum Nordturm.
»Zwei Erwachsene«, sagte er an der Kasse.
»Wir wollen da hochfahren? Hältst du das aus – da steht ein Schild: Besuchern mit Höhenangst (Akrophobie) raten wir … « Aber weiter kam Sophie nicht, denn Johann unterbrach sie unwirsch.
»Natürlich kann ich auf den Turm. Ich bin doch kein Kleinkind.« Und schob sie in die offene Fahrstuhltür.
»Grüß Gott«, sagte der Fahrstuhlführer. »Ich bring Sie mal schnell nach oben.« Er drehte seinen Schlüssel in der Schaltfläche, und die Türen schlossen sich. Offenbar wollte er nun freundlich ein paar Fakten über das Bauwerk und seine Türme von sich geben – Höhe, Alter, Bauherr –, aber Johann drehte ihm den Rücken zu und redete auf Sophie ein.
»Endlich hast du mit dem Mist aufgehört. Weil du eingesehen hast, wie vollkommen überflüssig das Risiko ist. Und dann stürzt du mir fast ab, wegen so eines Typen. Ich kenne diese Kletterloser doch, das sind doch alles Hänger, die nichts auf die Reihe kriegen. Verlierertypen. Du bist schon viel zu oft auf solche Kerle reingefallen.«
»Ich bin nicht auf ihn reingefallen«, protestierte Sophie.
»So, und wer hat sich dann eingeschlichen und dich an der Nase herumgeführt? Dieser Grotemeyer, ein freier Journalist. Ein Spinner, der klettert und ab und zu mal ein Artikelchen schreibt. Hut ab, du bist wirklich eine höchst professionelle Assessment-Psychologin. Du durchschaust sie alle!« Den letzten Satz hatte er voller Hohn ausgesprochen.
»Entschuldige, dass ich nicht so professionell bin wie du. In deinem Gesicht sieht man ja keinerlei Regung, wenn du – wie gestern Abend – dem Aserbaidschaner locker hunderttausend zu viel abknöpfst. Ja, du bist professionell. Ein professioneller Lügner«, konterte Sophie. Jetzt war auch sie wütend.
»Dem Aserbaidschaner tut das nicht weh.«
»Das mag ja sein. Aber diese Kletterloser, wie du sie nennst, die haben zumindest Moral. Anders als deine kaltherzige Kaste. Selbst bei dir wäre ich mir nicht sicher, ob du nicht eines Tages …«
»Verzeihen S’, die Herrschaften«, ging der Fahrstuhlführer in seinem gemütlichen Singsang dazwischen. »Aber glauben S’, das ist der richtige Moment für so einen Streit? Es sind zwar nur achtundsechzig Meter, anders als der Südturm ist der Nordturm nie fertig geworden. Der Südturm ist höher, hundertsechsunddreißig Meter. Nun gut, tödlich wäre beides. Aber keine Sorge, junge Frau, es ist alles gut eingezäunt da oben. Sie san sicher.«
»Was mischen Sie sich denn da ein«, blaffte Johann ihn an, aber in dem Moment hielt der Fahrstuhl schon an, und die Türen öffneten sich. »Ah, ein kühles Lüfterl«, sagte der Fahrstuhlführer unbeeindruckt. Vor der Tür warteten schon Turmgäste, die wieder hinunterwollten. Es waren drei giggelnde junge Mädchen und ein weiteres, das blass an der Mauer lehnte. Die Tür war noch nicht ganz offen, da drängten sie hinein. »Ist ja wie in der Berliner U-Bahn«, schimpfte Johann.
»Als würdest du noch U-Bahn fahren«, fauchte Sophie hinter ihm.
»Schönen Aufenthalt. Und brechen S’ sich da oben nicht das Herz«, rief der Fahrstuhlführer hinterher.
»Nein, nein«, versprach Sophie. »Bis gleich.«
»Der Kampel ist eh schon so ein Miesepeter …«, hörte sie den Fahrstuhlführer noch sagen, dann schloss sich die Tür.
Kühles Lüfterl? Ein scharfer Wind wehte hier oben. Sophies Haare flatterten wild in ihr Gesicht, und sie versuchte die Strähnen mit beiden Händen zu bändigen. Der Blick über Wien war weit, ein Dächermeer mit einigen Kirchtürmen dazwischen. Es gab kaum
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