Sommer mit Nebenwirkungen
sich ein Schokoriegelpapier. Reste einer geplünderten Minibar. Daneben ein Zettel, Johann musste eine Nachricht hinterlassen haben. Sie stand auf und ging hinüber zum Schreibtisch.
»Wir treffen uns mittags um 14 Uhr in der Lobby, gehen dann weiter ins Kaffeehaus. Hawelka? Bräunerhof? Ich schalte dort das Telefon aus, versprochen. Dann können wir in Ruhe reden. In Eile, Johann
PS: Hoppla! Heute Abend füll ich dich wieder mit Champagner ab!«
Ein Blick auf die Uhr, es war erst kurz nach neun. Noch fünf Stunden bis zum Treffen. Was sollte sie bis dahin tun? Im Bett lungern, shoppen, ins Museum gehen? Die Berggasse 19 kam ihr in den Sinn. Erst mal frühstücken.
Das Frühstück in den prächtigen Räumen des alten Hotels war wunderbar. Viel frisches Obst und ein aufmerksamer Koch mit strahlend weißer Kochmütze, der die Eier frisch vor den Augen der Gäste zubereitete. Sophie saß im Speiseraum mit seinem Schachbrettboden aus weißem und rotem Marmor, trank eine gute Wiener Melange und las eine deutsche Tageszeitung. Wann hatte sie zum letzten Mal so viel Zeit für sich gehabt? Einfach nur Ruhe, keine Termine, nichts. Ihr Telefon hatte sie im Zimmer gelassen. Sie wollte nicht erreichbar sein. Aus Berlin erwartete sie ohnehin nichts Gutes, der Grotemeyer-Artikel schwebte wie ein Unheil über ihr, und wer wusste schon, ob er sie nicht obendrein anzeigen würde. Beleidigung, Körperverletzung gar. Die Ohrfeige war wirklich gepfeffert gewesen.
Verblüffend, wie leicht sie sich heute von ihrem Handy getrennt hatte. So unglücklich die Szene im Flugzeug gestern auch gewesen war, sie fühlte sich seitdem vom Telefon abgenabelt. Nina würde sie später anrufen und ihr alles erzählen. Sophie schaute nach draußen, auf dem Platz vor der Albertina war schon viel los. Busse, Taxen, Autos und Fiaker, die berühmten Wiener Pferdekutschen, kurvten umeinander. Dazwischen irrlichternde Touristen mit aufgefalteten Gratis-Stadtplänen in der Hand. Oder solche, die auf ihr iPhone starrten, das sie durch die Stadt navigierte.
Noch vier Stunden bis zum Treffen mit Johann. Was hatte sie zu verlieren? Kurz entschlossen verließ Sophie das Hotel, ohne noch einmal hoch auf das Zimmer zu gehen. Geld hatte sie dabei, eine Jacke brauchte sie nicht an diesem schönen Tag. Vor dem Hotel stand ein Taxi, ein alter schwarzer Mercedes, der Taxilenker, wie man in Wien sagte, war mindestens so alt wie sein Fahrzeug.
»In die Berggasse Nummer 19«, sagte Sophie.
»Ach, zum Doktor«, antwortete der Taxilenker, so, als sei Freud noch in der Stadt und praktiziere.
Am berühmten Kunstmuseum vorbei ging es auf dem Ring, der mehrspurigen Prachtstraße, um Wiens Innenstadt. Sie passierten die Oper, das Parlament, die Hofburg, das gefeierte Burgtheater, die großen Museen. So viel Pracht in dieser Stadt. Am Sigmund-Freud-Park bog der Taxifahrer dann vom Ring ab. Sophie schaute fasziniert aus dem Fenster auf die neugotische Votivkirche. In dieses Gotteshaus waren die Menschen mit ihren Wünschen, Träumen und Ängsten gegangen, bevor Dr. Freud kam und alles veränderte. Dort hatten sie kleine silberne Votive abgelegt, Amulette in Form eines Herzens, eines Beines oder eines Armes, die den lieben Gott gnädig stimmen sollten, ihre Gebete zu erhören. Kinderkram nannte Sigmund Freud die Religion, nur eine infantile Hoffnung auf eine höhere Macht. Er räumte im Inneren des Menschen auf. Gab den unbeleuchteten Seelenwinkeln neue Namen: Ich, Es, Über-Ich. Seine Therapie war nicht Glauben, sondern Reden. Durch die Sprache Herr werden über die eigenen Abgründe. Sophie hatte das schon im Studium als vermessen empfunden. Nun war sie auf dem Weg zum Doktor. Was erwartete sie dort?
»Gehen Sie zu Herrn Dr. Gnoth, dem Archivar, und erzählen Sie ihm Ihre Geschichte. Lassen Sie den Namen ›Mathilde‹ fallen. Vielleicht hilft er Ihnen weiter.«
Das Taxi kam nun an einer schicken Drogerie vorbei und bog dann rechts ab in die Berggasse. Auf einem rot-weißen Banner lockte der Name »FREUD« das touristische Publikum an. Das Haus, ein heller Gründerzeitbau, hätte auch in Berlin stehen können. Sophie zahlte.
»Servus«, verabschiedete sich der Taxilenker. »Grüßen S’ den Herrn Doktor. Wissen S’, ich träum jede Nacht, dass ich fliege. Jede Nacht!«
Himmel, diese Wiener. Sogar Taxifahrer erzählten einem hier ihre Träume. Sophie trat durch die schwere doppelte Hoftür. Die Familie hatte im ersten Stock gewohnt, dort hatte er auch praktiziert. Auf
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