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Sommer mit Nebenwirkungen

Sommer mit Nebenwirkungen

Titel: Sommer mit Nebenwirkungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Leinemann
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Hochhäuser, und am Horizont waren die Berge zu sehen. Unter ihnen lag der Stephansplatz, auf dem sich die Leute drängten. Der Fahrstuhl, stellte Sophie jetzt fest, öffnete sich nicht direkt am Turm. Eine Plattform führte hinüber zum eigentlichen Aussichtspunkt. Und nun sah Sophie auch, warum unten das warnende Schild gehangen hatte. Die Plattform bestand aus Gitterrost. Man konnte natürlich nicht hindurchfallen, aber man konnte hindurchgucken – direkt unter ihren Füßen tat sich die Tiefe auf. Für sie ein angenehmer Kitzel, nicht so für Johann.
    Er war in seiner Wut schon einige Schritte vorausgegangen und hatte wohl noch nicht bemerkt, worauf er lief. Doch plötzlich sah er nach unten. Wäre die Situation nicht so heikel gewesen, Sophie hätte fast lachen müssen, denn der große Johann sackte förmlich in sich zusammen. Er kauerte sich hin und sah aus wie einer dieser riesigen Sitzbälle, aus dem die Luft entwich. Sophie eilte zu ihm und legte den Arm um ihn.
    »Schatz«, sagte sie.
    »Der Boden …«, stammelte er. »… das können die doch nicht machen.« Sechzig Meter unter ihm schloss gerade ein Mann ein Auto auf, das von oben wie ein Spielzeugauto aussah. Johann krallte sich mit den Fingern am Gitter fest, die Knöchel wurden weiß.
    »Das Gitter ist sicher, es trägt dich«, versuchte Sophie ihn zu beruhigen. »Bitte, schau nach oben, nicht nach unten. Versuch aufzustehen. Wir gehen zurück zum Fahrstuhl.«
    »Nein, nicht zurück«, schrie Johann panisch. Dann zeigte er nach vorn auf die Gitterstufen, die zur Balustrade des eigentlichen Nordturms führten. Ein Turm aus richtigen Steinen.
    »Da will ich hin.«
    Er brauchte dringend festen Boden unter den Füßen. Sophie stellte sich vor ihn und nahm seine beiden Hände. »Du stehst jetzt auf, gut so. So, nun schau mir in die Augen. Vertrau mir. Wir gehen jetzt ganz langsam hinüber zum Turm. Genau, einen Schritt, noch einen Schritt. Das machst du prima.«
    Johann hielt ihre Hände nicht, er zerquetschte sie regelrecht. Seine eigenen waren eiskalt und trotzdem nass geschwitzt, und sein Herz raste. Vor der ersten Gitterstufe blieb er ruckartig stehen.
    »Ich kann das nicht«, flüsterte er.
    »Doch, du schaffst das. Nur die drei Stufen. Es kann nichts passieren, alles ist eingezäunt.«
    »Aber wenn ich ohnmächtig werde, dann rutsche ich unter der Stufe hindurch«, flüsterte Johann fast atemlos.
    Sophie drehte sich um. Tatsächlich, die Stufenhöhen der Treppen lagen offen, aber kein erwachsener Mensch passte da durch. Erst recht nicht ein Hüne wie Johann.
    »Vertrau mir, ich halte deine Hand. Dir kann nichts passieren.«
    Eine Schulklasse drängelte sich lachend an ihnen vorbei.
    »Guck mal, so ein großer Kerl und so ein Schisser«, rief einer.
    »Du Opfer«, der andere.
    »Hey«, mahnte der Lehrer. Aber Johann reagierte nicht, vielleicht hörte er es auch überhaupt nicht.
    »Es zieht mich da runter, Sophie, etwas zieht mich da runter, was ist, wenn ich die Kontrolle über mich verliere?« Als Psychologin erkannte Sophie alle klassischen Symptome einer Höhenangst wieder. Johann hatte nicht mehr das Gefühl, er selbst zu sein. Als hätte er sein eigenes Ich nicht mehr im Griff.
    »Ruhig, Johann, konzentriere dich auf deinen Atem und schau mich an, schau nicht nach unten, gut so, noch eine Stufe – so, ab hier ist wieder Stein. Es kann gar nichts mehr passieren.«
    Auf der steinernen Empore angekommen, suchte Johann den Punkt, der am weitesten von der Brüstung entfernt war – die innere Turmwand, hinter der die Glocke, die Pummerin genannt, hing. Er lehnte sich gegen die Wand, rutschte in die Hocke und legte beide Hände flach auf dem steinernen Boden ab.
    Dann schnaufte er durch. »Meine Höhenangst ist noch schlimmer geworden als früher«, sagte er nach einer Weile. Seine Stimme klang anders als sonst, war weniger forsch, weicher.
    »Viel schlimmer.«
    »Ich verstehe nicht, was man an der Höhe mögen kann. Hast du denn gar keine Angst?«
    »Ich habe Respekt, aber keine Angst. Schau, der weite Blick. Das lohnt sich doch«, sagte Sophie.
    Er schaute sie befremdet an, als würde er sie neu sehen. Mit Abstand. »Unüberbrückbare Differenzen«, der Ausdruck fiel Sophie in dem Moment ein. In Amerika war es der klassische Scheidungsgrund, dachte sie. Man stand sich gegenüber, getrennt von einem tiefen Graben, und fand nicht mehr zueinander. Für Scheidungsanwälte klingelte in diesem Moment die Kasse, Psychologen aber sahen das anders. Für

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