Sommer mit Nebenwirkungen
Sophie spürte ein leichtes Glücksgefühl, die Kindersitze kamen ihr vor wie ein gutes Omen. Sie atmete die Bergluft tief ein. Es roch nach Nadelwald und Blumenwiese, und Sophie meinte einen wilden Bach zu hören, in dem das Wasser ungezügelt wirbelte und sich gurgelnd seinen Weg zwischen den Steinen hindurch bahnte. Sie schaute sich um. Es war weit und breit niemand zu sehen.
Der große Koffer passte gerade so in das Mini-Auto, sie hatte ihn auf die Rückbank gequetscht. Nun zog sie heftig an ihm, doch er klemmte. Zum Glück trug sie bequeme Klamotten, eine lässige Hose, dazu ein enges elastisches Hightech-T-Shirt aus irgendeinem weltraumgetesteten Sportmaterial und an den Füßen flache Sandalen, die sie vor Jahren auf Ibiza gekauft hatte. Endlich war der Koffer raus. Sophie schloss das Auto ab und zog den Rollkoffer über die Holperwiese in Richtung Straße. Immer wieder drohte er umzukippen. Sie umrundete große getrocknete Kuhfladen und fragte sich, ob die Kühe wohl zwischen den Autos grasten. Man hörte nichts außer ab und zu einen Vogel, das Summen der Bienen und das Rauschen des Bachs. Die Sommerwärme schien sich besonders unten im Gras zu halten, die Hitze staute sich förmlich an ihren Füßen.
Von einem Hotel war weit und breit nichts zu sehen. Kein Mensch, kein Haus, es gab nur die Scheune, die ziemlich mitgenommen aussah. Es war kein Parkplatz, wie man ihn bei einer Nobelherberge erwartete. Das nannte man wohl Einsamkeit. Als sie ihr Handy herausholte, merkte sie, dass es keinen Empfang hatte. Klar, so hoch oben lohnten sich Sendemasten nicht. Na super, dachte Sophie. Wann wohl jemand vorbeikommt?
Im letzten kleinen Ort hatte sie kurz mit dem Hotel telefoniert und sich angekündigt. Man beschrieb ihr den Weg zu genau diesem Wiesen-Parkplatz. Dort solle sie das Auto abstellen und warten, man würde sie abholen. »Falls Sie noch irgendetwas besorgen wollen für Ihren Aufenthalt bei uns, tun Sie das am besten jetzt. Wir sind hier oben nicht so gut angebunden. Aber natürlich können wir auch später alles herbeischaffen, was Sie wünschen – fast alles«, lachte die Rezeptionistin ins Telefon.
Am Rand des Parkplatzes stellte sie den Hartschalenkoffer quer, setzte sich darauf und wartete. Sollte sie lesen? Nach dem Telefonat mit dem Hotel hatte sie sich im letzten Tante-Emma-Lädchen mit Klatschzeitungen eingedeckt. Außerdem erwarb sie noch einen Wanderführer, zwei Wanderkarten und eine Kletterkarte. Und eine Packung Tampons. Damit müsste sie gut gewappnet sein für alles, was kommen mochte.
Sophie holte die Wasserflasche aus ihrer Handtasche, trank einen Schluck und freute sich über die Sonne in ihrem Gesicht. Aus Berlin war weder gestern noch heute ein Anruf gekommen. War das nun ein gutes Zeichen? Vielleicht verzichtete Grotemeyer auf seine bescheuerte Enthüllungsgeschichte: »Der wahre Terror der Assessment-Center. Sie zwingen Kandidaten die Wände hoch.« Oder die C&O-Anwälte erwirkten einen Rückzug. Die konnten wirklich fies werden.
Mit Nina hatte sie schon von Verona aus telefoniert. Sophie liebte Italien, und Verona gefiel ihr sehr mit seinem antiken Amphitheater und dem berühmten Balkon, auf dem Julia gestanden hatte, während Romeo um sie geworben hatte. Ihr Hotel, oder zumindest die Fassade, stammte aus dem 13. Jahrhundert. Damals hatte man in Deutschland nur dicke Burgmauern und hutzlige Fachwerkhäuschen gebaut. Na gut, vielleicht auch den ein oder anderen Dom. Trotzdem, das meiste blieb derb. Wie filigran war dagegen das italienische Mittelalter. Auf der Piazza Bra hatte sie am Morgen einen Cappuccino getrunken und dazu ein Tramezzino gegessen. Wahrscheinlich wäre sie noch ein, zwei Tage in Verona geblieben, wenn sie nicht dieses Ziel hier oben vor Augen gehabt hätte.
Mathilde Freud, meine Hoffnung. Sie holte das Buch heraus, das ihr der Archivar Dr. Gnoth an der Kasse hinterlegt hatte, und begann zu blättern.
Auf den Bildern schaute Mathilde Freud meist ernst drein, nur selten sah man sie unbeschwert, und Sophie dachte, was für eine schöne Frau sie sein konnte, wenn sie einmal befreit lachte. Es gab ein Bild von ihr als junges Mädchen, sechzehn oder siebzehn war sie da gewesen und wirkte doch schon damenhaft. Im Reisekostüm aus Tweed stand sie im Fotostudio vor einem gemalten Bergpanorama, ihre Hand ruhte auf einem Holzgeländer aus dicken Ästen, das man für das perfekte Bergszenario nachgebaut hatte. Die Haltung gerade, am Hals eine weiße Blusenschleife. Ihre
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