Sommer mit Nebenwirkungen
Haare steckte sie fast immer hoch, und auf dem Bild trug sie auch noch einen kleinen Hut auf dem Kopf, der so elegant über dem Gesicht schwebte, dass für seine Befestigung sicherlich eine Hutnadel nötig gewesen war. Sie schaute mit ihren schönen dunklen Augen direkt in die Kamera, den Mund leicht geöffnet – was für üppige Lippen sie hatte. Die Nase von Mathilde Freud war eigen, es war keine Stupsnase, was Sophie natürlich besonders schätzte. Sah sie ihrem Vater ähnlich? Schwer zu sagen – dessen Gesicht wurde ja vom Bart dominiert. Auch er war ein Mann mit klassischen Gesichtszügen. Ja, es gab eine Ähnlichkeit.
In dem Jahr, als das Foto geschossen wurde, hatte Mathildes Ausbildung zur höheren Tochter gerade begonnen. Dazu gehörten ein bisschen Kunstgeschichte, regelmäßige Theatergänge und der Besuch von Lesezirkeln. Jedes Ereignis notierte sie fein säuberlich in ihr »Merkbüchlein«, ein Dokument ihres weiblichen Ehrgeizes. Ihr Berufsziel: zur gebildeten Ehefrau heranreifen. Das hatten ihre Eltern vorgegeben, auch der Vater wusste: Schönheit allein half nicht immer weiter. »Ich ahnte längst, dass Du bei all Deiner sonstigen Vernünftigkeit Dich kränkst, nicht schön genug zu sein und darum keinem Mann zu gefallen«, schrieb Sigmund Freud 1908 seiner Tochter Mathilde in einem Brief. »Ich habe lächelnd zugeschaut, weil Du mir erstens schön genug schienst und weil ich zweitens weiß, dass in Wirklichkeit längst nicht mehr die Formenschönheit über das Schicksal des Mädchens entscheidet, sondern der Eindruck ihrer Persönlichkeit.« Gezeichnet mit: »Dein liebender Vater«.
Ein richtiges Studium, eine echte Berufsausbildung, das allerdings traute er seiner Tochter nicht zu. So war wohl die Zeit damals. Trotzdem stellte Sophie erstaunt fest, wie warmherzig der Brief des Vaters an seine Tochter geschrieben war. Sie hatte den Mann wohl falsch eingeschätzt, gedacht, Freud sei ein Patriarch gewesen, dessen Kinder nur auf Zehenspitzen durch die Wohnung schleichen durften. Doch Freud schien anders gewesen zu sein – war er nicht auch immer eng mit seinen drei Töchtern verbunden geblieben, besonders mit der jüngsten, Anna Freud?
Sophie wunderte sich über sich selbst. Dass ich plötzlich so viel über die Familie Freud nachdenke – schon sonderbar. Im Studium wäre ich lieber schreiend weggelaufen, als mich mit den Freuds zu beschäftigen. Sie steckte das Buch weg und schaute leicht ungeduldig auf die Uhr. Jetzt saß sie schon zehn Minuten auf ihrem Koffer, und niemand war zu sehen.
Vor ihr hoppelte ein Hase durch das Gras. Er ließ sich von ihr überhaupt nicht stören. Eine Wolke schob sich vor die Sonne und verschattete kurz die Wiese. Wie ging es von hier aus wohl weiter? Ein breiter Weg führte in einen dichten Tannenwald hinein. Dort stieg er weiter hinauf, dann verlor sich seine Spur. Endlich hörte Sophie Motorengeräusche. Sie kamen jedoch nicht von der Straße, sondern aus dem Tannenwald, jemand schien ihr entgegenzukommen. Zwei Minuten später wendete ein Jeep vor ihr, ein Kerl saß darin, der aussah wie der Großvater von Heidi, wie der Almöhi. Alt war er, mit einem zerfurchten Gesicht, struppigen Augenbrauen und einem großen weißen Bart. Natürlich trug er einen Trachtenhut auf dem Kopf, vermutlich war er ihm von der Tourismusbehörde verordnet worden.
Doch darin sollte Sophie sich täuschen, hier war nichts verordnet, der Kerl war echt, ein Original. Das war nicht Berlin, hier drehte sich nicht alles um die Inszenierung. Hier waren die Leute, wie sie eben waren.
Er tippte kurz zur Begrüßung an seinen Hut und murmelte etwas, das Sophie nicht verstand. Überhaupt verstand sie in den nächsten zwanzig Minuten wenig, denn der Kerl sprach einen kaum zu entschlüsselnden Dialekt. Sollte das wirklich Deutsch sein? Oder so etwas Ähnliches wie Deutsch? Das »r« rollte kräftig, und es kam häufig ein »ü« oder ein lang gezogenes »a« vor. Als er ihren Koffer auf die Ladefläche wuchtete, hörte sie ihn allerdings sehr deutlich fluchen. Das Wort »damisch« kam vor und »Weibsbilder«. Der Servicegedanke schien diesem Mann noch fremd, so einer würde es noch nicht mal als Hausmeister über die Schwelle eines Assessment-Centers schaffen. »Diese damischen Tests mit diesem damischen Weibsbild da vorn.« Sophie musste grinsen.
Der Öhi wies ihr im Auto den Platz neben sich zu, und kaum hatte sie die Jeeptür geschlossen, haute er auch schon unsanft den ersten Gang rein.
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