Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
Nähe bleiben und sich der Situation stellen sollte. Doch wenn er das täte, wäre Janes Ruf ruiniert. Es käme nichts Gutes dabei heraus, wenn er enthüllen würde, was sie getan hatten. Nicht hier, nicht so. „Ich mach mich dann mal wieder auf den Weg. Auf mich wartet heute Abend noch ein Journalismusseminar. Alfred Eisenstadt spricht über Nachkriegsfotografie.“
„Bleib doch noch ein paar Minuten“, schlug Charles vor. „Dann kannst du Jane Hallo sagen. George, ich fände es wirklich schön, wenn ihr zwei euch besser kennenlernen würdet. Sie ist ein wirklich wundervolles Mädchen.“
Ich weiß, dachte George erneut. Sie war alles, woran er denken konnte – ihre gemeinsame Nacht, die geflüsterten Küsse auf ihrer Haut, die Verzweiflung, die sich durch eine magische Alchemie in Liebe verwandelt hatte.
„Es tut mir leid, Charles“, sagte er und stopfte die Zeitung in den in der Nähe stehenden Mülleimer. „Aber das sehe ich einfach nicht.“
Was sein Privatleben anging, hatte George nie viel Nutzen aus den Techniken und Fähigkeiten gezogen, die er als Journalist erlernt hatte. Doch jetzt tat er es. Jetzt nutzte er alles, was er wusste, um herauszufinden, wo Jane lebte. Er fand heraus, dass der Mädchenname ihrer Mutter Swift war und dass ihre Tante seit ihrer Hochzeit den Namen Scanlon trug und jetzt im östlichen Teil der Stadt wohnte.
In dem Stadtteil gab es noch keine privaten Telefonanschlüsse,und so führte ihn seine Suche an diesem Abend zu einem schindelgedeckten Haus in einem heruntergekommenen Abschnitt der Lower State Street. Hier lebten Arbeiter zwischen ihren Zwölfstundenschichten im Drahtwerk oder der Trikotagenfabrik. Hier brüllten sie ihre Frauen an, zogen ihre Kinder auf, spielten Baseball, tranken Bier auf den Veranden und schleppten sich am nächsten Tag wieder zur Arbeit.
Das hier ist Janes Viertel, dachte er, als er dem Taxifahrer einen Geldschein hinüberreichte. Er war noch nie zuvor hier gewesen. Verglichen mit den manikürten Grünflächen des Yale-Campus war das hier ein anderer Planet. Wie seltsam musste es für Jane sein, jeden Tag mit dem Bus zwischen diesen beiden Welten hin- und herzufahren.
„Möchten Sie, dass ich warte?“, fragte der Taxifahrer.
„Nein … äh, ja, doch.“ Er wusste, dass die Chancen nicht gut standen, in dieser Gegend ein weiteres Taxi aufzutreiben. „Geben Sie mir bitte zehn Minuten.“
„Sicher. Wenn ich eines hab, dann Zeit.“
George war sich nicht sicher, wieso er zehn Minuten gesagt hatte. Vielleicht hatte er gedacht, so lange würde es dauern, die Frau, die man liebt, zu finden und ihr das Herz zu Füßen zu legen. Und wenn die zehn Minuten um waren, zog man entweder weiter oder ein.
Ganz einfach.
Ein paar Türen weiter stieß ein räudiger Mischlingshund ein raues Bellen aus. George hörte eine Tür zuschlagen. Er straffte die Schultern und überquerte den mit Unkraut bewachsenen Flecken Gras, der als Vorgarten diente. Durch das Fenster konnte er die Familie sehen, ein älteres Paar, vermutlich Janes Tante und Onkel. Die dritte Frau musste Janes Mutter sein, die er seit dem Sommer 1944 nicht mehr gesehen hatte. Er erkannte sie kaum; ihr Haar war ganz weiß geworden. Ihre Miene war vollkommen ausdruckslos, während sie so hektisch strickte, als hinge ihr Leben davon ab.
Die drei hatten sich um ein großes Konsolenradio versammelt,dessen Anzeige bernsteinfarben leuchtete. Die Stimme von Walter Winchell erklang aus den Lautsprechern. Sie war durch das offene Fenster klar zu verstehen.
George übermannte der Drang, Jane von all dem hier zu retten, sie in ein anderes Leben zu entführen.
Paris wartete auf sie, aber es gab noch ein kleines Hindernis. Sie hatte gesagt, mit Charles wäre es vorbei. Sie hatte nie gesagt, dass sie ihn liebte.
Plötzlich fühlte er sich unsicher in seinem Yale-Pullover, dessen Schulfarben im Dämmerlicht leuchteten. Er zog ihn aus und schlang ihn sich um die Schultern. Dann ballte er die Hand zur Faust und klopfte entschlossen an die Tür. Er betete, dass Jane aufmachen würde, aber so viel Glück war ihm nicht beschieden. Der Onkel kam, und eine Zwiebelwolke strömte aus der weit geöffneten Tür.
Der Onkel war ein großer Mann mit einem mächtigen Bierbauch und einem unrasierten Gesicht. Er sah auf raue Art gut aus. Zu seiner Arbeitshose trug er ein Unterhemd, unter dessen Träger er eine Packung Lucky Strikes geklemmt hatte. „Ja?“, fragte er.
„Ich heiße George Bellamy“, stellte er
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