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Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens

Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens

Titel: Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Wiggs
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und nur auf die Veranda oder auf den Steg gegangen, um ein paar frühe Sonnenstrahlen zu genießen. Von Charles Bellamy war nicht mehr gesprochen worden, und Claire hatte das Thema auch nicht angeschnitten. Im Moment war George nicht in der Verfassung, den Gefühlsansturm zu bewältigen, den eine Wiedervereinigung mit seinem lange verlorenen Bruder ganz sicher auslösen würde.
    Ihr Plan für den Tag war, die Dinge sich in der Geschwindigkeit entwickeln zu lassen, wie es gut für ihren Patienten war. In der umfangreichen Bibliothek hatte sie ein wenig die Camp-Geschichte nachgelesen. Es gab mehrere Alben voller Fotos von Menschen und Ereignissen, die damit zu tun hatten. Angefangen hatte es als landwirtschaftliche Nutzfläche am nördlichen Ende des Sees, die einer Familie Gordon während der Großen Depression zur Begleichung einer Schuld überschrieben worden war. Camp Kioga selber war in den 1930er Jahren von Angus Neil Gordon als Feriencamp für Familien aus der Stadt gegründet worden. Kioga war, soweit man wusste, ein erfundenes Wort, von dem Angus behauptete, es bedeute in der Sprache der Algonkin Ruhe .
    Das Camp war später an Angus’ Tochter und ihren Mann vererbt worden. Ihre Namen waren Claire auf den Seiten sofort ins Auge gesprungen: Jane Gordon Bellamy und Charles Langston Bellamy.
    Auf ihrem Weg über die Waldwege versuchte Claire sich vorzustellen, wie es hier in der Vergangenheit gewesen sein mochte. Sie fragte sich, ob sie je den Grund für die Entfremdung der Brüder erfahren würde. Geschwister teilten Geschichte und Erfahrung auf eine Weise, wie es niemand anders konnte. Doch irgendetwas hatte George und Charles auseinandergerissen. Etwas, das George dazu gebracht hatte, fortzugehen und erst nach fünfundfünfzig Jahren wieder zurückzukehren.
    Sie war so in Gedanken versunken, dass sie nicht bemerkte, wie jemand sich ihr von schräg hinten näherte. In letzter Sekunde erblickte sie den Schatten – groß, männlich, Baseballkappe, ausgestreckte Arme – und reagierte instinktiv mit aller Kraft und Entschiedenheit, wie sie es in ihrem Selbstverteidigungskurs gelernt hatte. In einer flüssigen Bewegung drehte sie sich, wobei sie mit ihrem rechten Bein auf Schritthöhe austrat und die Handkante ihrer rechten Hand in Richtung Gesicht des Angreifers schnellen ließ. In weniger als einer Sekunde lag er zusammengekrümmt auf dem Boden, und sie rannte um ihr Leben, das Pfefferspray in der Hand, die Nerven im Adrenalinrausch zum Zerreißen gespannt.
    Claire schätzte, dass sie ungefähr fünf Minuten von der Stelle entfernt war, an der sie ihre Tasche versteckt hatte. Der arme George Bellamy würde nie erfahren, was aus ihr geworden war.
    Sie fühlte sich schlecht deswegen. Sie hoffte, dass er seinen Bruder finden würde. Und sie hoffte, dass Georges Familie ihn nicht wieder zurück in die Stadt schleppen und zwingen würde, sich weiteren Behandlungen zu unterziehen.
    Doch diese Sorgen reichten nicht aus, um sie aufzuhalten.
    Ganz anders als der Ruf ihres Angreifers. „Tancredi“, rief er mit vor Schmerz rauer Stimme.
    Dieses kleine Wort – ein Name, der beinahe nie ausgesprochen wurde – ließ sie auf der Stelle anhalten. Er brachte alles zurück, was sie vermeinte, hinter sich gelassen zu haben. Inklusive der Person, die sie vor ihrem Verschwinden war.
    Sie erlaubte sich einen kurzen Blick zurück.
    Ihr Angreifer war auf allen vieren und versuchte gerade, sich wieder aufzurappeln. Gut. Auf allen vieren konnte er keine Waffe ziehen.
    Die Baseballkappe war heruntergefallen und enthüllte eineMähne grau melierter Haare.
    Oh Gott. Mel. Es war Melvin Reno, der einzige Mensch, dem Claire ihre Geheimnisse anvertraute.
    Sie drehte sofort um und lief zu ihm, wo sie sich auf die Knie fallen ließ. „Bist du verrückt?“, schimpfte sie. „Du Riesentrottel! Du hättest dich nicht so anschleichen sollen. Ich hätte dir ernsthaften Schaden zufügen können.“
    „Das hast du vielleicht auch.“ Er funkelte sie durch die Tränen an, die ihm der Schmerz in die Augen getrieben hatte.
    „Setz dich“, sagte sie, als ihr seine fahle Gesichtsfarbe auffiel, die ihr zeigte, dass er einen kleinen Schock erlitten hatte. „Zieh deine Knie im Fünfundvierzig-Grad-Winkel an und steck deinen Kopf dazwischen.“
    Stöhnend tat er, wie befohlen.
    „Atme durch die Nase ein“, wies sie ihn an. „Und durch den Mund aus.“
    „Ich glaube, du hast mir das Gesicht gebrochen.“
    „Kannst du atmen?“
    „Ja.“
    „Dann

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