Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
dass man nicht für immer lebt. Aber eine ganz andere, auf einmal sein Verfallsdatum zu kennen.“
Ross hatte immer gewusst, wie schwer es würde, seinen Großvater zu verlieren. Aber es war ihm auch immer wie eine ganz entfernte Möglichkeit vorgekommen, etwas, das irgendwann in einer nebulösen Zukunft stattfinden und ihn unvorbereitet treffen würde wie der Angriff eines Heckenschützen.
Stattdessen war der Verlust noch für diesen Sommer vorhergesagt.
Ross hasste es. Er hasste die herzlose Prognose mit jeder Faser seines Seins.
George beugte sich vor und machte mit einem Bauern seinen Lieblingszug, die französische Eröffnung.
„Also, wegen dieser Krankheit …“ Ross sprach leise, doch selbst er hörte die Eindringlichkeit in seiner Stimme. Nahezu unbewusst erwiderte er die Eröffnung mit einem eigenen Zug. Granddad und er hatten schon immer gegeneinander Schach gespielt.
„Die ganzen Einzelheiten können wir morgen früh besprechen. Ich verspreche dir, nicht heute Nacht zu sterben.“ George zog einen weiteren Bauern und schaute seinen Enkel aus strahlenden Augen an. „Guter Gott, wie ich dich vermisst habe! Ich habe mir jede Sekunde lang Sorgen gemacht.“
„Das tut mir leid. Die Arbeit war gefährlich, aber ich bin froh, dass ich sie gemacht habe. Ich weiß, dass du dagegen warst, aber ich musste es einfach tun.“
„Und ich könnte nicht stolzer auf dich sein. Doch jetzt bist du wieder hier, und das bedeutet mir alles.“
Auf dem Schachbrett herrschte nun ein ganz schönes Gewimmel. Der schwarze Läufer war eingeklemmt und nutzlos, doch das war Ross’ geringste Sorge.
„Granddad, es ist mir egal, wie krank du bist – ich will wissen, was hier zum Teufel los ist! Wo sind alle? Onkel Louis und Gerard und Trevor? Warum sind sie nicht hier bei dir?“
„Nun, wie du weißt, sind die beiden Älteren in Übersee, aber sie werden bald nach New York kommen. Trevor und Alice sind von L.A. eingeflogen, als ich meine Behandlung in der Mayo-Klinik beendet habe. Sie sind in der Wohnung.“ Er bezog sich damit auf sein Apartment in Manhattan. „Ich habe sie eingeladen, mit mir hierherzukommen, aber sie hoffen, dass du mir Vernunft einredest und mich in die Stadt zurück begleitest.“
„Ach ja? Und, wie mache ich mich bisher?“
„Nicht so gut, weil ich nämlich vorhabe, hierzubleiben.“ Seine Miene wurde weich, nachdenklich. „Ross, ich musste eine Entscheidung treffen. Ich habe ein erfülltes Leben gelebt, habe viel Freude, aber auch Schmerz und Verlust erlebt. Ich bin hierhergekommen, um mich meinem größten Bedauern zu stellen, und das ist die jahrelange Entfremdung von meinem Bruder Charles. Eine weiterführende Therapie würde mir vielleicht noch ein paar Monate mehr schenken, aber jeder Tag wäre angefüllt mit Terminen, schmerzhaften Tests und invasiven Eingriffen. Also habe ich mich entschieden, hierherzukommen, meine Familie einzuladen und einen Tag zu haben, wie es der heutige war. Ich habe auf der Hollywoodschaukel gesessen, das Kreuzworträtsel in der New York Times gelöst und gebetet, dass du bald hier sein wirst.“ Er schenkte Ross ein Lächeln, das diesem die Tränen in die Augen trieb. „Jetzt bist du da. Und ich bin mir sicher, dass die anderen bald zu uns stoßen werden.“
„Aber warum hier? Und was hat es mit deinem Bruder auf sich?“
„Jetzt, wo meine Zeit abläuft, sehe ich einige Dinge klarer, und der Wunsch, wieder Kontakt zu meinem Bruder aufzunehmen, gehört dazu. Was in der Vergangenheit passiert ist … das darf jetzt keine Bedeutung mehr haben. Meine Prioritäten haben sich verschoben. Mein Kontostand? Ist mir egal. Genauso egal wie ob ich die letzte Folge von Grey’s Anatomy versäumt habe oder meine Socken zueinanderpassen. Wichtig ist nur, mich mit der Vergangenheit auszusöhnen und mein Herz mit denen zu teilen, die ich liebe.“
Ross war sich nicht sicher, womit sein Großvater sich aussöhnen musste. Was konnte so mächtig sein, dass es zwei Brüder über die Spanne eines ganzen Lebens entzweite? Was auch immer es war, er hoffte, sie würden es schnell hinter sich bringen. Ein unbehagliches Treffen mit dem Bruder und dann nichts wie zurück in die Stadt und einen Arzt finden – oderbesser noch, ein ganzes Team – der einen Weg fand, die Krankheit zu bekämpfen.
Er nickte in Richtung Speisesaal. „Und warum sie ?“
George blickte mit finsterer Miene auf das Schachbrett. „Sie ist genau das, was wir brauchen.“
Ross ignorierte das Wir .
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