Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
misstraute. Es war ihr sogar egal, dass er seine Freundin mitgebracht hatte. Von dem Augenblick an, in dem er sie mit diesem Wer zum Teufel sind Sie? -Ausdruck in den Augen angeschaut hatte, war sie verzaubert gewesen.
Sie konzentrierte sich auf das aktuelle Thema. „Es gibt nichts, was man dagegen tun kann“, sagte sie. „Außer ein Auge auf ihn zu haben und ihm mit seiner Mobilität zu helfen.“
Im Schein der Verandalampe sah sie, wie sich Ross’ Kiefer anspannte. Sie unterdrückte den Drang, seine Hand zu nehmen; sie spürte, dass ihre Berührung ihm keinen Trost geben würde. Das zerbrochene Glas war vermutlich der erste konkrete Beweis für Ross, dass Georges Krankheit keine Einbildung, sondern etwas Reales und Unausweichliches war. Ein Feind, den er nicht bekämpfen konnte.
„Ist das Ihre medizinische Meinung“, fragte Ross, „oder Ihre persönliche?“
„Meine medizinische“, erwiderte sie. „Ich habe Stunden damit zugebracht, mich mit diesem Fall vertraut zu machen.“
„Dieser Fall. Ja, ich schätze, für Sie ist er nur ein Fall.“
„Nein, für mich ist er ein Mann, der mich braucht. Er braucht auch Sie und alle, die ihn lieben. George hat es verdient, ein Gefühl des Friedens und des Abschlusses zu finden. Ja, die Situation ist fürchterlich, aber sie wird auch unerwartete Geschenke bereithalten. Nicht jedem ist es vergönnt, noch einmal eine Zeit zu haben, die er nach seiner Fasson gestalten kann. Einigen Menschen wird innerhalb eines einzigen Augenblicks alles genommen.“ Sie hielt inne, weil sie befürchtete, zu viel von sich preisgegeben zu haben.
Ross schaute sie eindringlich an. „Was er braucht, ist ein verdammtes Team von Ärzten. Ich lege mein Vertrauen in Chirurgen und Skalpelle. Das ist der Weg, auf dem Leben gerettet werden.“
„Auf dem Schlachtfeld ist das wohl richtig“, sagte sie.
„Er hat Ihnen von mir erzählt?“
„Er hat mir erzählt, dass Sie Rettungshubschrauberpilot inder Army sind.“ Claire fühlte die Anspannung, die Ross ausstrahlte, und sie spürte, dass er eine ganze Menge unterdrückte. Das war nicht ungewöhnlich, aber es war nicht gut für ihren Patienten. Er konnte nicht voll für seinen Großvater da sein, wenn er seine wahren Gefühle unter Verschluss hielt. Es gab Dinge, die mussten einfach herausgelassen werden. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie es für Sie gewesen sein muss.“
„Das wollen Sie sich auch gar nicht vorstellen. Niemand will das.“
„Sie haben Leben gerettet.“ Sie sah ihn offen an. „Und jedes Leben, das Sie gerettet haben, war mit unzähligen anderen verbunden. Ihr Großvater ist darauf zu Recht sehr stolz. Ich hoffe, das Wissen, wie viel Gutes Sie getan haben, bringt Ihnen ein wenig Frieden.“
Er zuckte mit den Schultern. „Männer wie ich führen keine Strichlisten. Wir wissen nicht, wie viele Menschen wir gerettet oder verloren haben. Niemand aus der Crew weiß – oder will wissen – was mit den Patienten passiert, nachdem wir sie ausgeflogen haben.“
„Sie haben das nie nachverfolgt? Sich nie gefragt, was aus einer bestimmten Person geworden ist?“
„Es gab ein paar Männer, die herausgefunden hatten, wie sie mit mir in Kontakt treten konnten“, gab er zu. „Ein paar E-Mails, um sich zu bedanken.“ Er drückte seine Fingerspitzen aneinander und sah aus, als würde er sich in Erinnerungen verlieren. „Ich bin einer der Glücklichen, wissen Sie? Ich bin für zwei Jahre in den Krieg gezogen und habe niemanden umbringen müssen. Mit dem Helikopter rausfliegen und die Jungs zurückbringen – das war ein Höllenjob.“
Je weniger er sagte, desto mehr füllte ihr Gehirn die Lücken mit eigenen Gedanken auf. Sie versuchte, ein mentales Bild von Ross zu entwerfen, wie er seinen Helikopter durch das Feuer der Schlacht lenkte, aber es war mehr wie eine Szene aus einem Film. Vielleicht lag das daran, dass er selbst in seiner Trauer und Wut noch aussah wie ein Filmstar.
„Natürlich habe ich mich gefragt, was aus den Leuten geworden ist“, fuhr er fort. „Ich habe mir über jeden Einzelnen von ihnen Gedanken gemacht. Und es dann dabei belassen. Zu versuchen, bei allen auf dem Laufenden zu bleiben, macht einen verrückt.“
„Ihr Großvater nennt Sie einen Helden.“
„Vielleicht war ich nur ein Adrenalinjunkie.“
„Wollten Sie schon immer Pilot werden?“, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. „Ich wusste nie wirklich, was ich werden wollte, also war ich für lange Zeit einfach ein
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