Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
glücklich war, und fragte sich, wie viel Hintergrundwissen er besaß. „Noch nicht“, erwiderte sie. „Ich glaube, er hat auf Sie gewartet.“
Im See sprang ein Fisch hoch, etwas glitt vom Ufer ins Wasser. Ross beobachtete die Szene noch einen Moment. Dann sagte er: „Ich gehe ins Bett. Wenn er irgendwas braucht, holen Sie mich bitte.“
„Natürlich.“
Er drehte sich um und ging davon zu der Hütte, die Natalie gemietet hatte.
Claire stand noch einen Moment im Mondlicht auf der Veranda und schaute in die Dunkelheit. In ihr tobten die unterschiedlichsten Gefühle. Ross’ Stimmung wechselte wie das Pendel einer Uhr, was für Exsoldaten nicht ungewöhnlich war. Er war der letzte Mann, von dem sie erwartet hatte, sich angezogen zu fühlen. Es ergab überhaupt keinen Sinn. Er war frisch aus dem Krieg zurück, er war der Enkel ihres Patienten, und er war zusammen mit einer Frau hier aufgetaucht, die vielleicht seine Freundin war.
Claire wusste, dass sie wegen der herzzerreißenden Sehnsucht, die sie verspürte, nichts unternehmen würde. Und was Ross anging, er würde viel zu sehr mit Familienangelegenheiten beschäftigt sein, die versprachen, extrem kompliziert zu werden.
Familien sind ganz schön chaotisch, überlegte sie. Sie hörte, wie sich die Tür zu seiner Hütte öffnete und schloss. Die Menschen taten einander so oft so weh. Sogar wenn sie versuchten, das Richtige zu tun und aus Liebe heraus handelten, fügten sie einander Schmerzen zu. Die Mitglieder einer Familie arbeiteten so hart daran, zusammen zu sein, aber wofür? Damit sie streiten und weinen und sich gegenseitig die Köpfe einschlagen konnten? Teil einer Familie zu sein war der sichere Weg zu Schmerz und Zwietracht.
Aber warum sehnte sie sich dann so sehr danach?
7. KAPITEL
R oss erwachte vom Gesang der Vögel. Die Sonne schien durch sein Fenster, und für ein paar Minuten lag er ganz still und genoss das Wunder eines perfekten Morgens. Er hatte sich so daran gewöhnt, von lauten Explosionen, Sirenen, keuchenden Generatoren und Funksprüchen, von pfeifend niedergehenden alten Sowjetraketen oder dem ploppenden Geräusch von Maschinengewehrfeuer geweckt zu werden.
Gestern Abend hatte Claire Turner ein nahegelegenes Veteranenzentrum erwähnt. Im Moment brauchte er das jedoch nicht. Ihm reichte der ruhige, stille Morgen am See. Er versuchte, mit seinen Gedanken im Hier und Jetzt zu bleiben, eine Fähigkeit, die er erlernt hatte, um während seiner Einsätze nicht durchzudrehen.
Das Bett in seiner gemieteten Seehütte war sehr bequem. Es hatte weiße, gestärkte Laken und eine dicke, ganz leichte Daunendecke. Das Fußende des Bettes zeigte in Richtung eines Fensters, vor dem schlichte, helle Vorhänge in der Brise wehten und einen Ausblick einrahmten, den er bei seiner Ankunft nur im Mondlicht gesehen hatte.
Der Willow Lake machte seinem Ruf, das Juwel der Catskills zu sein, alle Ehre. Die Wasseroberfläche glich im Licht der aufgehenden Sonne gehämmertem Gold. Alle möglichen Arten von Bäumen säumten seine Ufer, vor allem aber Weiden, die dem See ihren Namen gegeben hatten. In Gedanken hörte Ross die Klänge von Edvard Griegs Morgenstimmung , doch schnell drängte sich eine weitaus prosaischere Wirklichkeit in seine Fantasie. Irgendwo in der Hütte wurde ein Radio angestellt, und Jay-Z rappte Big Pimpin . Offensichtlich war Natalie aufgestanden.
Da gleichzeitig der Duft von frisch gebrühtem Kaffee durch das Häuschen zog, verzieh er seiner Freundin ihren Musikgeschmack. Er zog sich ein paar ausgewaschene Jeans an, die ernoch aus seinen Tagen als Zivilist besaß, und machte sich auf den Weg in die Küche.
Natalie trug eine Sporthose und ein T-Shirt. Sie trank Kaffee und schaute aus dem Fenster. Als sie ihn kommen hörte, drehte sie sich um und ließ den Blick ein Weilchen auf seiner nackten Brust ruhen. „Wow, Chief Bellamy! Das Militär bekommt Ihnen ausgezeichnet.“
„Du meinst, ich habe mich von dem dürren Kind weiterentwickelt, über das du dich immer lustig gemacht hast?“
„Auf jeden Fall!“
Es war eher Langeweile als Eitelkeit gewesen, die ihn dazu getrieben hatte, Stunden im Fitnesszelt zu verbringen. Zwischen den adrenalingeschwängerten Rettungseinsätzen gab es kaum etwas anderes zu tun. Außerdem musste er zugeben, dass er sich von dem Wettkampfgeist unter den Männern hatte anstecken lassen. Sie war ein Teil der besonderen Kultur auf den entlegenen Außenposten, auf denen er die letzten Jahre verbracht
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