Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
hatte.
Er schenkte sich eine Tasse Kaffee ein – dunkler, starker Kaffee mit echter Milch. Er schmeckte so köstlich, dass Ross glaubte zu träumen.
„Ihr seid gestern Abend ziemlich lang aufgeblieben“, bemerkte Natalie. „Geht es deinem Großvater gut? Also im Moment, meine ich?“
Traum vorbei, dachte Ross und stellte seine Tasse beiseite. „Offensichtlich hat er ein paar Probleme mit seiner Sehfähigkeit und vielleicht auch mit der Koordination. Im Schach schlägt er mich allerdings immer noch.“
„Also ich hätte beim besten Willen nicht gemerkt, dass er krank ist“, sagte sie. „Und die Schwester? Ist sie … Wie funktioniert das? Sie sieht für mich nicht nach jemandem aus, der harmlose Großväter entführt.“
„Granddad scheint sie zu mögen. Wir werden sehen.“ Claire Turner. Er versuchte immer noch, herauszufinden, wie er zu ihr stand, also sagte er nichts weiter. „Danke, dass du dich umdie Unterkunft gekümmert hast, Nat“, fügte er hinzu. „In meiner Eile, hierherzukommen, ist es mir überhaupt nicht in den Sinn gekommen, etwas zu reservieren.“
„Kein Problem. Es ist zum Glück noch früh genug im Jahr, sodass sie ausreichend Platz hatten.“
Die Hütte, die man ihnen zugeteilt hatte, war wie ein großes A gebaut und stand Seite an Seite mit weiteren Hütten der gleichen Bauart, die alle auf den See hinausschauten. Ein gerahmter Ausdruck an der Wand gab einen kurzen Überblick über die Geschichte der Häuser. Die Originalgebäude hatten als Wohnungen für die Saisonarbeiter gedient, damals, als das hier noch Ackerland gewesen war. Später, nachdem das Camp Kioga angelaufen war, waren hier die Mitarbeiter des Camps oder die abends auftretenden Künstler untergebracht worden.
Natalie fand das Cottage einfach perfekt mit seinen bunt gestreiften Wolldecken, den alten Drucken an der Wand und den Retromöbeln. Der Hauptbereich besaß ein leicht erhöhtes Bett, von dem aus man direkt auf den See schaute, und über eine Leiter kam man in ein gemütliches Loft, das sich in der Spitze des A verbarg. Ross und Natalie hatten eine Münze geworfen, wer das Loft beziehen durfte, und Natalie hatte gewonnen.
„Ich geh eine Runde laufen“, verkündete sie. „Danach muss mich jemand in die Stadt fahren. Ich muss den Mittagszug kriegen.“
„Du reist schon wieder ab?“
„Ich habe einen Job, weißt du noch?“
„Dann verpasst du ja den ganzen Spaß!“ Ross runzelte die Stirn. „Denn abgesehen von meiner eigenen Familie scheint es noch einen mysteriösen Bruder zu geben.“
„Nimm’s nicht persönlich, aber ich habe selber eine verkorkste Familie, da muss ich mir deine nicht auch noch antun.“
Er ging mit ihr hinaus. Die kühle Luft fühlte sich frisch an auf seiner nackten Haut. Er atmete tief ein und legte Natalie einen Arm um die Schultern. „Danke, dass du mit mirhierhergekommen bist.“
„Dafür sind Freunde ja schließlich da.“ Sie zog ihn erstaunlich stürmisch an sich und stellte sich dann auf Zehenspitzen, um ihm ins Ohr zu flüstern. „Ich wünschte, das würde alles nicht passieren.“
Er drückte sie fest und hob sie leicht hoch. Sie fühlte sich gleichzeitig kräftig und weiblich an, aber wie immer waren seine Gefühle für sie rein platonisch. Sie war für ihn wie eine Schwester. Eine extrem loyale Schwester. „Sie sind einfach unglaublich, Miss Sweet.“
„Ja, das bin ich, oder? Ich komme dich bald besuchen.“ Sie entzog sich der Umarmung, und er sah, dass ihre Wangen ganz feucht waren. „Ich weine nicht deinetwegen“, schluchzte sie.
„Ich weiß.“ Er atmete zitternd ein. „Ich weiß, für wen diese Tränen sind.“
Er ließ sie los und sah, dass Claire Turner auf der Veranda des Hauses seines Großvaters stand und sie beobachtete. Ross fragte sich, was ihr durch den Kopf ging. Er fragte sich eine ganze Menge, was sie betraf.
„Sie glaubt, dass wir zusammen sind“, sagte er zu Natalie.
Natalie gab ihm einen Klaps auf den Arm. „Träum weiter, Chief!“
„Tu mir bitte einen Gefallen.“
„Was immer du willst.“
„Wenn du wieder in der Stadt bist, sieh nach, was du über eine Krankenschwester namens Claire Turner herausfinden kannst.“
„Du glaubst, sie ist eine Betrügerin?“
„Ich weiß nicht, was ich von ihr halten soll.“ Nach ihrer gestrigen Unterhaltung war Ross klar, dass er noch meilenweit davon entfernt war, diese Frau zu verstehen. Aber er wusste auch, wenn er in ihre Augen schaute, fühlte er etwas, das zugleich fremd
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