Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
nein.“
„Sie und ihr italienischer Geliebter, ein Mann Mitte vierzig, sind gemeinsam mit dem Motorrad auf dieser Straße unterwegs gewesen.“
Autsch, dachte Claire. „Das tut mir wirklich leid.“
„Wir hatten bereits über eine mögliche Scheidung gesprochen, aber stattdessen bin ich zum Witwer geworden. Ich kann nicht sagen, dass ich darüber glücklich war, aber es wäre auch gelogen, wenn ich nicht zugeben würde, dass sie und Fabio mir eine Menge Ärger erspart haben.“
„Fabio. Er hieß Fabio?“
Er nickte. „Versuchen Sie mal, das Ihrer Familie zu erklären. Und darf ich sagen, Miss Turner, wie sehr mich Ihr momentaner Gesichtsausdruck erfreut?“
„Tut mir leid. Es ist nur … es ist eine ziemlich unglaubliche Geschichte.“
„Davon habe ich einige – traurige, glückliche, tragische, lustige oder einfach nur dumme. Das Leben ist lang, Claire. Ich bringe es nicht wirklich über mich, meine Ehe zu bedauern. Jacqueline war die Mutter meiner Kinder, und ich würde niemals schlecht über sie sprechen.“
„Was Ihre Kinder betrifft – Sie haben drei Söhne“, wechselte sie das Thema.
„Ich hatte vier Söhne“, erwiderte er. „Einer ist gestorben.“
Claire strich mit ihren Fingern über seine kühle, trockene Hand. „Sie müssen nicht darüber sprechen, wenn Sie nicht wollen.“
„Pierce ist immer nah bei mir“, sagte er. „Dennoch ist der Verlust eines Kindes etwas, wovon sich das Herz niemals erholt. Ehrlich gesagt ist es das Einzige, was mir beim Gedanken an mein nahendes Ende ein gewisses Gefühl des Friedens verschafft.Dass ich mich nicht mehr jeden Tag mit Trauer und Verlust werde herumplagen müssen, ist mir ein großer Trost.“
„Ich würde irgendwann gerne mehr über ihn hören.“
„Es wäre mir eine Freude, Ihnen von ihm zu erzählen. Oder noch besser: Ross könnte es tun.“
Ihr Herz setzte einen Schlag aus. „Pierce war Ross’ Vater.“
Er nahm ein weiteres gerahmtes Foto heraus und stellte es neben die anderen. „Er war in der Armee und ist während Desert Storm getötet worden.“
Sie hatte nur vage Erinnerungen an den Konflikt. Damals war sie noch in der Grundschule gewesen, und der Krieg war für sie so weit weg gewesen wie der Start eines neuen Space Shuttles. Doch als sie nun den Mann auf dem Bild sah, sein verstörend vertrautes Lächeln, wurde er auf einmal realer für sie. „Das tut mir unglaublich leid.“
„Pierce war der Beste“, sagte George. „Ich weiß, es ist nicht richtig, seine Kinder zu vergleichen, aber es stimmt. Er war der Beste. Und Ross ist in vieler Hinsicht genau wie er.“
Claires Kehle wurde eng, und sie spürte Tränen aufsteigen. „Dann hatte er Glück, Sie zu haben.“
„Ich hoffe, er sieht das genauso.“ George nahm das letzte Bild in die Hand. Es zeigte eine große Gruppe. „Alles in allem habe ich ein Dutzend Enkel. Ross ist der Älteste und Micah mit seinen zwölf Jahren der Jüngste. Und irgendwie fürchte ich, für die beiden wird es aus unterschiedlichen Gründen am schwersten werden. Ich nehme an, Sie werden mehr über das Warum herausfinden, je besser Sie Ross kennenlernen.“
Sie sind mein Patient, nicht Ross, dachte sie, sagte aber nichts. „Jetzt, wo er hier ist, können Sie endlich Ihren Bruder anrufen.“
George wandte den Blick ab. „Angenommen, er weigert sich, mich zu treffen?“
„Dann wissen Sie wenigstens, dass Sie es versucht haben. Und ehrlich gesagt erscheint mir das sehr unwahrscheinlich.“ Sie zeigte auf das älteste Foto von George und seinem Brudermit ihren Eltern. „Auf mich wirkt es so, als gäbe es eine gemeinsame Basis aus Liebe.“
„Oh ja, Liebe war ganz sicher da.“ Georges Augen überschatteten sich mit Erinnerungen, als er sich dem See zuwandte. „Aber das hat uns nicht davon abgehalten, wie Hund und Katze zu streiten.“
8. KAPITEL
New York,
auf dem Weg nach Camp Kioga
Avalon, Ulster County
Sommer 1944
M utter, George will nicht mit mir teilen!“, beklagte sich der zehnjährige Charles Bellamy von seinem Fenstersitz in dem heißen, lauten Zug. „Er will Superman ganz allein für sich haben.“
„Will ich nicht.“ Gereizt drückte George das Comicheft gegen die Brust.
„Doch!“
„Nein!“
„Gib es her!“, weinte Charles mit anschwellender Stimme. „Du magst Superman nicht mal“, brummte George.
„Tu ich wohl!“
„Gar nicht!“
„Doch!“
„Nein …“
„George Parkhurst Bellamy! Lass deinen Bruder das Comicheft lesen.“
„Aber
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