Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
nach einem Zipfel des eingerissenen Wachspapiers.
„Hey“, protestierte George. „Die habe ich fair und ehrlich von meinem eigenen Geld gekauft. Da war dieses Kind an der Grand Central …“
„Du hast Süßigkeiten von einem Straßenbettler gekauft?“ Seine Mutter beeilte sich, die Toffees aus dem Fenster zu werfen, dann bespritzte sie sich ihre Hände mit Rosenwasser aus ihrer Reisetasche. „Wirklich, George, was hast du dir nur dabei gedacht? Du könntest dir eine Krankheit einfangen.“
„Ach, ich habe doch nur ein wenig Kleingeld übrig gehabt.“
„Tu so etwas nie wieder! Du müsstest es besser wissen, als von einem Fremden etwas zu essen zu kaufen.“ Seine Mutter schüttelte sich, dann widmete sie sich wieder dem Büchlein, das sie las.
Charles rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her und schlug mit den Fersen seiner Schuhe gegen die Fußstütze, während er so tat, als würde er das Comicheft lesen. Manchmal war George es leid, einen kleinen Bruder zu haben, der ihm alles nachmachte. Vor allem ein Kind wie Charles, der dachte, er wäre ihm ebenbürtig. Er war beinahe vier Jahre jünger als George, dennoch bestand er darauf, alles zu machen, was sein großer Bruder tat.
Missmutig entschied George sich, in sein Notizbuch zu schreiben. Er war sich ziemlich sicher, dass Clark in seinem Alter auch ein Notizbuch gehabt hatte. Ein hervorragender Reporter wurde man nicht über Nacht. Das erforderte jahrelange Übung, und George wollte sich einen Vorsprung verschaffen.
Es war eine Herausforderung, im Zug zu schreiben. Er nutzte den kleinen, ausklappbaren Tisch unterhalb des Fensters. Sein Stift wackelte im Rhythmus des Zuges, aber er blieb eisern dabei.
„Auf dem Weg nach Camp Kioga in Avalon, Ulster County, New York, Vereinigte Staaten von Amerika, Planet Erde“, schrieb er. Er fühlte sich sehr erwachsen, weil seine Mutter ihm erlaubt hatte, den guten Füller zu benutzen, den er fürseinen Sieg beim Buchstabierwettbewerb erhalten hatte.
Er hatte ein Fläschchen kleckerfreier Tinte in der besten Farbe, nämlich einem Pfauenblau. Er nahm an, dass Clark Kent auch pfauenblaue Tinte benutzen würde.
George vertiefte sich mit absoluter Konzentration in seine Aufgabe. Er schrieb einen sehr guten Artikel über die Straßenverkäufer in New York und versicherte sich, dass seine Zeichensetzung perfekt war. Die Geschichte war so gut, dass er sich vorstellen konnte, sie in der New York Times veröffentlicht zu sehen. Jeder wusste, dass die New York Times alle veröffentlichungswürdigen Nachrichten druckte. So stand es nämlich auf ihrem Titelkopf.
George entschied, einen eigenen Titelkopf zu entwerfen. Er brauchte einen Slogan. Er schrieb:
Alle druckfertigen Nachrichten der Welt.
Vielleicht sollte er sich etwas Eigenes ausdenken.
Gedruckte Nachrichten. Jederzeit.
Nein, das passte nicht. Vielleicht: Wenn es passt, drucken wir es.
„Was machst du da?“, fragte Charles.
„Das geht dich nix an“, erwiderte George.
„Lass mich mal sehen.“ Charles griff nach dem Notizbuch. Dabei stieß er gegen die tropfsichere Tinte, und das Fläschchen kippte um. Unglücklicherweise bedeutete tropfsicher nicht auch bruchsicher. Der Hals der Flasche brach ab, und die Tinte verteilte sich über Georges Geschichte und vernichtete zwei Seiten seiner mühevollen Arbeit.
„Oh-oh“, machte Charles.
„Du kleine Pest!“, zischte George. „Ich sollte dir den Kopf abreißen.“
„Versuch’s doch! Wirst schon sehen, was du davon hast! Es war ein … ein Versehen, du Trottel.“ Seine Wangen wurden ganz rot, und sein Kinn zitterte.
George hatte nur Verachtung für den Gefühlsausbruch seines Bruders übrig. „Lass mich in Ruhe“, zischte er. „Geheinfach, du Baby!“
„Ich werde ganz sicher weggehen“, erklärte Charles. „Und es ist mir egal, wenn ich dich nie wiedersehe. Nie, nie, nie.“
Wie sich herausstellte, war Charles’ Drohung unmöglich in die Tat umzusetzen. Denn der Bungalow am See, in dem sie den Sommer über wohnen würden, hatte nur ein Kinderzimmer mit Etagenbett, das sie sich teilen mussten. Sie stritten sich darüber, wer oben schlafen durfte. Sie stritten sich darüber, ob nachts das Licht an oder aus sein sollte. Sie stritten und zankten sich über alles, bis ihre Mutter drohte, sie in eine Besserungsanstalt zu schicken.
Keiner der Jungen wusste so richtig, was eine Besserungsanstalt war, aber es klang nicht gut, und so reichte die Drohung, um sie manchmal sogar mehrere Minuten am
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