Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
Stück vom Streiten abzuhalten.
Irgendwann jedoch gewann der Zauber von Camp Kioga die Oberhand. Die Mütter spielten Bridge und rauchten Zigaretten und malten sich falsche Strumpfnähte auf die Rückseite ihrer Beine, während sie über den Krieg sprachen. Die Kinder unternahmen Ausflüge in den Wald. Sie kletterten auf Berge, um die Quelle eines Baches zu finden, oder sprangen abwechselnd von dem Sprungturm in den kalten, klaren See. Am Abend gab es Shows, manchmal sogar mit Künstlern aus der Stadt, oder einen gemeinsamen Liederabend, der von Mrs Gordon, der Frau des Campbesitzers, höchstpersönlich geleitet wurde.
Die Kinder blieben lange auf, kuschelten sich am Lagerfeuer aneinander und erzählten sich Gespenstergeschichten. Georges Lieblingsgeschichten waren die, die so gruselig waren, dass sie seinen jüngeren Bruder zum Weinen brachten.
Die Mahlzeiten wurden gemeinsam in dem großen Speisesaal im aus behauenen Baumstämmen erbauten Haupthaus eingenommen. Hier gab es auch eine Loggia und eine Veranda mit Blick auf den See, eine Bücherei, ein Musikzimmer undeinen Billardraum. Das Essen war vorzüglich, weil in diesem Teil der Welt die Rationierung der Speisen keine so große Rolle spielte. Direkt auf dem Grundstück des Camps gab es einen Gemüsegarten, eine Molkerei und eine Hühnerfarm. Jeden Tag bogen sich die Tische unter großen Schüsseln voller mit Butter und Sahne verfeinertem Kartoffelbrei und süßen Pasteten, die mit Früchten von eigenen Bäumen gefüllt waren.
Vom Krieg war hier kaum etwas zu spüren. George und Charles fingen an zu begreifen, dass sie zu Amerikas Elite gehörten. Die Prinzen der Gesellschaft, wie sie von einem Reporter der Washington Post genannt wurden, der im Camp Kioga einen Bericht über den Krieg zu Hause schrieb.
Vielleicht hatte er den Auftrag nur angenommen, um die Vorzüge des glamourösen Camps zu genießen, aber das war George egal. Er war viel mehr an dem Reporter – Mr McClatchy – interessiert als an dem Thema seines Artikels. Mr McClatchy machte sich Notizen und stellte Fragen. Er war ein alter, leicht fettleibiger Mann, der eine Brille mit dicken Gläsern trug. Er war kein Clark Kent, aber er ging seinem Beruf mit gleicher Leidenschaft nach.
„Journalismus“, erklärte er George, „beleuchtet die dunkelsten Ecken der Welt.“
„Aber was ist hier die Geschichte?“, wollte der wissen. „Prinzen der Gesellschaft? Wen interessiert das?“
„Die Menschen, die Anzeigenplätze in der Zeitung kaufen. Sie wollen über Menschen lesen, die anders sind als sie, die ein anderes Leben führen.“
„Und wie beleuchtet das irgendwas?“
„Das kann man nie wissen. Manchmal tut es das nicht. Und manchmal ist man John Steinbeck.“
George hatte Früchte des Zorns heimlich gelesen, weil es als schockierend und skandalös empfunden wurde. Das Buch hatte ihn fasziniert, und er hatte die Seiten nur so verschlungen. Das Ende empfand er jedoch nicht als skandalös, obwohl das der Grund dafür war, dass das Buch auf der schwarzen Listestand. Eine Frau bewahrte einen Mann vor dem Sterben, indem sie ihn mit ihrer Muttermilch fütterte. George fand das heroisch und auf eine verquere Art wunderschön, genau wie den Rest des Buchs. Er hatte allerdings nicht vor, etwas in dieser Art selber zu schreiben.
„Mr Steinbeck schreibt Fiktion“, erklärte er.
„Im Moment ist er Kriegskorrespondent der New York Herald Tribune. “
„Ich schreibe ein Tagebuch.“
„Das ist gut“, nickte Mr McClatchy. „Es hilft, die Gedanken zu ordnen. Sorg nur dafür, dass es niemals in die falschen Hände gerät.“
„Ja, Sir.“
George benahm sich wie der Prinz, als der er bezeichnet worden war. Er war im Sport der Beste, gewann alle Rennen, führte Ausflüge an, badete sich in der Bewunderung der anderen Kinder. Das alles fiel ihm ganz natürlich zu – war es schon immer. Sogar im Winter, wenn die Bellamys einige Wochen in einem Skiresort in Killington, Vermont, verbrachten. Dort hatte George sich entschieden, sich dem Eliteteam der Zehnten Bergdivison der US Army anzuschließen. Er würde ein Ranger auf Skiern sein, eine Art Superheld – nur in der realen Welt.
Herauszufinden, welche Superkräfte er diesen Sommer über haben würde, war hingegen eine Herausforderung. Vielleicht die Fähigkeit, sehr weit gucken zu können, dachte er eines Tages, als sie von einer Expedition auf den Watch Hill zurückkamen. Er beschattete seine Augen und ließ seinen Blick über die Landschaft
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