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Sommer wie Winter

Sommer wie Winter

Titel: Sommer wie Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith W. Taschler
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haben wir draufgeleuchtet. Dabei hat er geflüstert. Er hat das nicht wegen mir gemacht. Er hat selber so gern gelernt. Oft bin ich dabei eingeschlafen. Weil’s so langweilig gewesen ist. Lieber ist mir gewesen, wenn er mir Geschichten erzählt hat. Das hat er nämlich gut können. Die sind echt spannend gewesen! Oder er hat mir vorgelesen. Den ganzen Tag hat er kaum den Mund aufgemacht. Und am Abend, ohne die Eltern, hat er auf einmal geredet!
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Nach der dritten Hauptschulklasse wollte die Mutter nicht mehr, dass ich mit dem Alex in einem Zimmer schlafe. Sie hat gesagt, das ist nicht gesund, weil wir ja nicht richtige Geschwister sind. Gesund! Das Wort habe ich lustig gefunden. Ich habe dann mit der Martina in einem Zimmer schlafen müssen. Die Anna hat ein eigenes bekommen.
    Die Eltern haben’s ihm aber nicht erlaubt. Dass er weiter in die Schule geht, meine ich. Die Mutter hat unbedingt wen auf dem Hof gebraucht zum Buckeln. Und der Vater hat die Arbeit nicht mehr machen wollen. Er hat ja den großen Hotelbesitzer spielen müssen. Das Scheißhotel – ! Die Mutter ist zu geizig gewesen, dass sie halt wen anstellt dafür. Ja sicher hätten sie sich das leisten können! Deswegen hat der Alex daheim als Knecht arbeiten müssen. Das hat »landwirtschaftlicher Helfer« geheißen. Seitdem ist der Vater kein einziges Mal mehr in den Stall gegangen.
    Die Eltern haben dem Alex keinen Tag in der Woche freigegeben. Er hat echt keinen einzigen Tag in der Woche freigekriegt! Mich hat das aufgeregt. Die Eltern haben gesagt: Wie stellst du dir das vor? Das Vieh muss jeden Tag gefüttert und gemolken werden.
    Sie haben wollen, dass ich die HBLA besuche wie die Martina. Ich bin aber nicht gern in die Schule gegangen. Ich wollte arbeiten und mein eigenes
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Geld verdienen. Und nicht daheim wie die Anna oder der Alex! Wo man der Depp ist für alle, rund um die Uhr! Wo man nicht mal einen ordentlichen Lohn kriegt! Das Trinkgeld muss man abliefern vor lauter Geiz und Neid! Wir sind also zusammen ins Poly gegangen, der Alex und ich.
    Ich wollte was mit Autos arbeiten. Habe Gott sei Dank gleich eine Lehrstelle gefunden, im Nachbarort. Mein Chef ist nett und hat sich gefreut, weil sich ein Mädchen um die Stelle bewirbt. Er hat zwei kleine Töchter.
    Ich wollte mir gleich ein Zimmer nehmen. Das haben die Eltern nicht erlaubt. Ich muss daheim wohnen, haben sie gesagt. Bis ich neunzehn bin. Und auch mithelfen bei den Gästen am Wochenende. Habe ich eine Scheißwut gehabt!
    Gleich wie ich neunzehn geworden bin, bin ich dann ausgezogen. Ja, am selben Tag! In eine kleine Wohnung, zusammen mit der Antonia. Sie ist Kellnerin im Edelweiß. Ich fühl mich seitdem wie im siebten Himmel! Wenn die Mutter am Wochenende anruft, hebe ich gar nicht ab. Ich weiß ja, dass sie nur eine Aushilfe braucht. Beim Zimmerputzen am Samstag, wenn die Gäste abreisen. Wie’s mir geht, fragt sie nie. Der Alex hat mich zweimal besucht, da ist ein guter Film im Fernsehen gewesen. Aber ausgehen wollte er nicht mit uns.
    Schon bevor ich ausgezogen bin, wollte ich ihn
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manchmal mitnehmen, wenn ich ausgegangen bin. Aber er wollte nie! Er hat in den letzten zwei, drei Jahren noch weniger geredet als früher. Hat sich stundenlang verkrochen. Wollte immer nur allein sein. Wenn er am Nachmittag ein bisschen Zeit gehabt hat, im Frühling und im Herbst, ist er allein auf die Alm gegangen. Einmal hat uns wer erzählt, dass er auf einem Felsen rumkraxelt. Und das ohne Sicherung.
    Mit den Mädchen ist er schüchtern gewesen. Er hat immer dieselbe Hose und denselben Pullover angehabt. Mit den Sachen für den Alex, da haben sie immer gespart! Die Anna hat oft gesagt: Mutter, jetzt kauf dem Alexander endlich was Ordentliches zum Anziehen! Das ist ja peinlich vor den Gästen!
    Jetzt tut mir das leid. Dass ich nicht mehr so viel Zeit mit ihm verbracht habe wie früher. Dass ich lieber mit der Antonia ausgegangen bin. Ich habe ihn nämlich echt gern.

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Therapiegespräch im Jänner 1990
Dr. B. und Martina Winter
    Ich glaube, es war vor drei Jahren, als der Alexander das erste Mal nach seiner leiblichen Mutter gefragt hat. Ich weiß nicht mehr genau, wann es war, auf alle Fälle war er fünfzehn oder sechzehn.
    Er hat nie vorher gefragt und es ist auch nie darüber geredet worden. Wir haben nur gewusst, dass sie ihn aus einem Kinderheim abgeholt haben. Warum er dort war, ob seine Eltern gestorben sind oder ihn einfach nicht haben wollten, das haben wir nicht gewusst.

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